Schlecht erkannte Wörter

Ein Sprachmagier und die Literaturwissenschaft: Eine Woche lang widmet sich das Literaturforum im Brecht-Haus dem Werk des im Juni 2007 im Alter von 65 Jahren verstorbenen Wolfgang Hilbig

VON ANDREAS RESCH

Es gibt nur wenige deutschsprachige Autoren, bei denen die Diskrepanz zwischen literarischem Rang und Auflagenhöhe so groß sein dürfte wie bei Wolfgang Hilbig. In Literatenkreisen nahezu kultisch verehrt und mit Preisen überhäuft, wird er von der breiten Öffentlichkeit seit Jahrzehnten beharrlich ignoriert. Sicherlich ist dieser Zustand einer bisweilen extremen Sperrigkeit seiner Texte geschuldet, die es nahezu unmöglich macht, Hilbigs Bücher en passant zu lesen, möglicherweise auch einem gewissen Willen zur Erfolglosigkeit, den er mit Schriftstellerkollegen wie Gert Neumann teilte.

Am 31. August wäre Hilbig 67 Jahre alt geworden. Anlässlich seines anstehenden Geburtstags hat das Literaturforum im Brecht-Haus eine Wolfgang-Hilbig-Woche initiiert, in der sich Freunde, Schriftsteller und Lektoren etwas mehr als ein Jahr nach seinem Tod mit dem Autor und Menschen Wolfgang Hilbig auseinandersetzen. Den Anfang machte am Dienstag der „Abend der Lektoren“, an dem die Hilbig-Herausgeber Hubert Witt (Ost) und Jörg Bong (West), der auch für die siebenbändige Werkausgabe im S. Fischer Verlag verantwortlich zeichnet, mit Moderator Wilfried F. Schoeller über Hilbigs Schaffen diskutierten.

Eröffnet wurde der Abend mit einem Fernsehausschnitt aus einem Gespräch zwischen Hilbig und Günter Gaus, in dem der im sächsischen Meuselwitz geborene ehemalige Heizer und Monteur von den Problemen nach seiner Übersiedlung in den Westen im Jahre 1985 und natürlich übers Schreiben spricht. Er habe, so Hilbig, „ein Thema daraus gemacht, kein Thema zu haben“. Anschließend ließen die Gesprächspartner verschiedene Stationen in Hilbigs Schaffen Revue passieren. Hubert Witt sagte, Hilbig sei „nicht gegen den Strom geschwommen“, sondern habe, die Literatur über das Leben stellend, vielmehr „gegen den Strom gezeigt“.

Jörg Bong monierte, Wolfgang Hilbig werde allzu oft auf die beiden „gängigen Rezeptionsschienen Chronist der DDR und am Leben erkrankter Poet reduziert“, obwohl doch sein Ouevre solche historisierenden oder autobiografischen Lesarten überhaupt nicht nötig habe. Texte wie „Der Leser“ könnten es in ihrer Komplexität durchaus mit literaturtheoretischen Werken von Roland Barthes oder Michel Foucault aufnehmen.

Im weiteren Verlauf des Abends kam es noch zu einem Disput zwischen Bong und Schoeller. Auslöser war Jörg Bongs Formulierung, Hilbig so schnell wie möglich „kanonisieren“ zu wollen, welche Schoeller „ein gewisses Unbehagen“ bereitete: Hilbig sei nun einmal ein Autor, der sich jedweder Kanonisierbarkeit entziehe. Bong hielt sanft dagegen und verwies auf die sich immer stärker ausbreitende Kommerzialisierung im Buchhandel.

Zum Ausklang durften beide Lektoren noch ein Hilbig-Gedicht vortragen. Hubert Witt las „Die Namen“ aus den frühen 80er-Jahren: „schreiben bei gewitterlicht / und traum / im halbdunkel die / schlecht erkannten wörter entfesseln sich / wollen hinaus in die nässe wie / regen die erde verändern.“

Am Mittwoch ging es unter dem Motto „O lasset mich des Lebens Ordnung tief verletzen“ weiter. Vier Autoren wollten über die Themenkomplexe „Welt und Unterwelt, Utopie und Atopie“ in Hilbigs Werk sprechen. Es begann Sebastian Kleinschmidt, Chefredakteur der Zeitschrift Sinn und Form, wo Hilbig 1980 seine ersten Gedichte in der DDR veröffentlicht hatte. Hilbig sei, so Kleinschmidt, „ein von Natur aus Abtrünniger“ gewesen, der sich „aus dem kollektiven Bewusstsein davonstahl“. Wie bei Kafka könne man auch bei ihm von einem „inneren Aussatz“ sprechen.

Spannend waren auch die Vorträge der Hilbig-Biografin Karen Lohse und von Jens Loescher. Während Lohse die intertextuellen Bezüge in Hilbigs Werk am Beispiel der Erzählung „Der Heizer“ offenlegte, versuchte Loescher, über eine Theorie der kulturellen Identität, Hilbigs „Ortlosigkeit des Schreibens“ in seiner biografischen Situation, seiner Verlorenheit zwischen Ost und West, zu verorten. Es habe, so Loescher, in Hilbigs Werk eine Umwertung von Begriffen wie Solidarität, Gleichheit und Echtheit gegeben – abstrakte Werte wurden zur ästhetischen Strategie in einem „Spiel der Eigen- und Fremdbesetzung“.

Es war interessant zu beobachten, dass diese wissenschaftlichen Ansätze sowohl beim Publikum als auch bei der Autorin Katja Lange-Müller, die in ihrem Vortrag über Hilbigs Erzählung „Die Flaschen im Keller“ sprach, eine gewisse Aggressivität auslösten. Einige Besucher verließen empört den Saal, andere störten den Vortrag von Jens Loescher. War es ein kollektives Unbehagen, die Sorge, der Sprachmagier Hilbig könne von der Literaturwissenschaft entmystifiziert werden? Jedenfalls griff Lange-Müller Karen Lohse in der anschließenden Diskussion in einer albernen Manier an, was symptomatisch war für einen Abend, an dem poetisches Sprechen und wissenschaftliche Analyse nicht so recht zueinanderfinden wollten. Am heutigen Abend geht diese abwechslungsreiche Woche mit einer Lesung von Texten von und für Wolfgang Hilbig zu Ende.

„ein brennendes haar zu hüten hinter der zunge“ – Der Abend der Autoren. Um 20 Uhr im Literaturforum im Brecht-Haus. Eintritt: 5 €, ermäßigt 3 €