crime scene : Das Supergirlie
An weiblichen Ermittlerfiguren ist das Krimigenre nicht eben arm; gar nicht so einfach, da noch eine Marktlücke zu finden. Ein Frauentypus aber war unter all den toughen Verbrecherjägerinnen bisher radikal unterrepräsentiert: das Girlie. Es ist zwar als todsicher anzunehmen, dass Lila Ziegler, zwanzigjährige Heldin von Lucie Klassens Debütroman „Der 13. Brief“ alles, nur das nicht sein wollen würde. Doch diese Heldin hat alles, was es braucht, um auch Leserinnen im gehobenen Teenageralter, die nach Einstiegsdrogen wie „TKKG „oder Agatha Christie reif für härtere Kost sind, in die Krimiwelt der Erwachsenen einzuführen. Karatekundig, intelligent, attraktiv und überaus unerschrocken, ist sie so, wie wohl jedes Mädchen gerne wäre – oder gern gewesen wäre. Auch Damen jenseits der zwanzig nämlich können der Lektüre noch einiges abgewinnen. Und Männer dürften es ruhig versuchen. Denn dieser Krimi für große Mädchen ist mehr als nur flott geschrieben, sondern geistreich und witzig, und bei aller märchenhaften Überhöhung der Hauptfigur nicht frei von Doppelbödigkeit.
Einerseits erzählt Lucie Klassen die Geschichte einer wunderbaren Selbstbefreiung. Lila steigt aus. Aus dem Albtraum, der ihr Leben als Tochter eines autoritären Richters bisher gewesen ist. Aus dem Zug, der sie zum Jurastudium nach Bielefeld bringen soll. Sie lässt sich vom Zufall auf dem Bahnsteig einer anderen Stadt mit B hinaussetzen: Bochum. Eigentlich egal; gut nur, dass sich im Ruhrgebiet wunderbar in der Menge verschwinden lässt. Lila verschenkt ihr letztes Geld und schnorrt sich geschickt ein ins Leben des Privatdetektivs Ben Danner, der sie zunächst nur widerwillig auf seinem Sofa übernachten lässt. Dank Lilas Beharrlichkeit und der Unterstützung von Danners Freund Molle, dem die Wohnung eigentlich gehört, darf sie nicht nur bleiben, sondern sogar in die laufenden Ermittlungen einsteigen. Denn Danner ermittelt gerade an einer Schule, an der es die Hintergründe eines Selbstmords aufzuklären gilt: Die beliebte, bildhübsche Vorzeigeschülerin einer zehnten Klasse ist aus dem Fenster gesprungen. Zu der Zeit, da Lila ungefragt in Danners Leben tritt, hat dieser, als Sportlehrer getarnt, bereits verdeckte Ermittlungen am Gymnasium aufgenommen – mit bescheidenem Erfolg. So findet Lila sich bald auf der Schulbank wieder.
Die einstige Außenseiterin gibt das nette Mädchen von nebenan und bemüht sich erfolgreich um Kontakt zu den besten Freundinnen der Toten. Dabei holt Lila nach, was sie während ihrer eigenen Schulzeit vor lauter Rebellentum vermieden hat: echte Mädchenfreundschaften mit ihren Verletzungen und Empfindlichkeiten. Und entdeckt, was ihr vor lauter frühreifem Geschlechtsverkehr mit zu vielen Typen entgangen ist: wahre Liebe. (Achtung, Mütter: Buch enthält sehr explizit geschilderten Sex. Vorpubertäre Agatha-Christie-Fans gehören vermutlich nicht zur Kernzielgruppe.)
Da Lilas geheimer Auftrag sie dazu zwingt, ihre neu gewonnenen Freundschaften schamlos auszunutzen, gerät sie in schmerzhafte Gewissenskonflikte. Und in echte Lebensgefahr, als sie den Fall schließlich fast im Alleingang löst. Die Atmosphäre latenter, auch sexueller Gewalt, die an diesem ganz normalen Gymnasium herrscht, und das ungeheure Machtgefälle zwischen Lehrern und Schülern schildert Lucie Klassen beklemmend realistisch. So stellt sich die wunderbare Selbstbefreiung des Mädchens Lila nur als die Kehrseite der Geschichte eines anderen Mädchens heraus, das nicht so viel Glück hatte. Aber ein Krimi, der mit dem Wort „Schokoladenkuchen“ endet, kann nicht wirklich finster sein.
KATHARINA GRANZIN
Lucie Klassen: „Der 13. Brief“. Grafit Verlag, Dortmund 2008, 345 Seiten, 9,95 Euro