: Selbstgebranntes auf den Straßen
Handverkäufer gehören längst auch zum gewohnten Straßenbild. Mancher nennt derzeit sein Gewerbe „Guerilla Marketing“ und verkauft dabei vor allem dubiose Alben mit schlechter Klangqualität
„Mögt ihr Musik?“, fragen zwei Jungs. Sie sehen jung aus, tragen Baggy Pants und Rucksäcke auf dem Rücken wie Schüler. „Hört ihr Hiphop?“, fragt der eine weiter, eine CD in der Hand haltend. Es kommt drauf an, lautet die Antwort, und sie stehen zunächst fragend da, leicht achselzuckend, als wären sie auf diese Antwort nicht gefasst und wüssten auch nicht so recht, wie ihre Promotion nun weitergehen soll. Was habt ihr denn da?
„Eine CD mit Songs verschiedener Musikrichtungen. Hiphop, Latino, Dancehall.“ Dancehall? „Ja, das ist was Neues. Hat ziemlich dicke Beats, ist perfekt zum Tanzen.“ Spätestens hier wird klar, dass die beiden ihr Verkaufsgespräch nicht unbedingt als Fachmänner führen: Dancehall gibt es in Europa seit den frühen Neunzigern. Selbstvermarktung gilt schon lange als eine innovative Strategie, die von Künstlern genutzt wird, um sich selbst zu promoten und zu managen.
Berlins Straßen sind nach dem Vorbild anderer Metropolen ebenfalls längst zum Marktplatz für Musik geworden. Querbeet durch alle Bezirke werden tags wie abends CDs verkauft von jungen Männern, die forsch anpreisen sollen, aber unbedarft auftreten. Die angepriesene CD sieht unscheinbar aus. Sie ist zweifelsohne selbstgebrannt und mit einem Filzstift-„tag“ bekritzelt. Beigelegt ist ein simples Cover: eine schlechte Schwarzweißkopie, auf der ein Notenschlüssel zu sehen ist und ein Männchen mit Basecap. Man sieht nur seine zusammengekniffenen Augen, darunter den Schriftzug „Guerilla Marketing“.
Die Jungs verkaufen diese CD, wissen selbst aber nicht viel über das eigene Produkt. „Das Label existiert schon länger.“ Seit wann denn? „Seit 2003 oder so. Es ist nicht die erste CD, sondern bereits die dritte. Wir sind von Guerilla Marketing. Guerilla steht für Kampf, für kleinen Krieg. Wir machen aggressiven Verkauf.“
Das hört sich an, als hätte ihnen jemand diese zwei Sätze lange eingeredet. Die CD enthält dröhnende Tracks, dazwischen viel zu laute Einlagen von einem grölenden Radiomoderator, der, wie in einer billigen Dorfdisko, das Publikum animieren will. Ihr Preis beträgt acht Euro für gerade mal sieben Songs.
Davon gehen 4,50 Euro fix an den Produzenten. Wie viel den beiden Straßenverkäufern bleibt, hängt von ihrem Geschick beziehungsweise ihrer Aggressivität beim Verkauf ab. Um ihren eigenen Verdienst nicht zu schmälern, vermeiden sie es, sich den Preis runterhandeln zu lassen. Bestenfalls bieten sie noch zwei CDs für 12 Euro an. Eine gut organisierte Drückerkolonne.
Anscheinend werden gerade händeringend weitere solcher Hilfskräfte gesucht. In manchen Berliner Bezirken sind ganze Ampeln an den Straßenkreuzungen mit Zetteln verklebt, auf denen in fetter Druckschrift steht: „Jobangebot! Independent Music-Label sucht Verkäufer.“ Versprochen werden mindestens 30 Euro Verdienst am Tag. Auf dem Plakat stellt sich das Label kurz vor und erklärt die Beweggründe der Gründung. „Der Anreiz dafür ist die schlechte Erfahrung mit der Musikindustrie und die daraus resultierenden finanziellen Folgen.“
Tatsächlich ist es so, dass sich der Einstieg für nicht etablierte Künstler schwierig gestaltet. Oftmals haben sie Probleme, geeignete Finanzierung für ihre Projekte zusammenzubekommen. Fragwürdig wird es, wie in diesem Fall, wenn ein „Label“ CD-Rohlinge mit minderwertiger Musik bespielt und zu überhöhten Preisen weiterverkauft. Wo bleiben die Urheberrechte? Wieso sollen sich potenzielle Kunden die Musik zulegen, ohne sie vorab anzuhören?
Die Suche nach Aufklärung auf der Unternehmenshomepage bleibt erfolglos. Nochmals der Verweis auf Stellengesuche für Mitarbeiter, ausdrücklich männlich. Eine E-Mail an den Gründer und Produzenten des Labels wird wochenlang nicht beantwortet. Schließlich meldet er sich und sagt, als „Künstler, Produzent, Organisator“ habe er schlicht und einfach zu viel um die Ohren. Ein Treffen möchte er vermeiden. Die jungen Straßenverkäufer sind dafür umso mitteilsamer.
An einem anderen Abend im gleichen Bezirk läuft ein junger Mann an den unzähligen Cafés am Helmholtzplatz vorbei und hofft, beim zahlungskräftigen Publikum in Prenzlauerberg auf offene Ohren zu stoßen. Er ist Mitte zwanzig und allein unterwegs. In der Hand hält er die gebrannte CD. Er fängt an zu erzählen. Das Label würde es schon seit einigen Jahren geben, die CD ist auch nicht die erste, sondern fünfte. Fünfte oder dritte? Er blickt etwas verlegen zu Boden. Warum er die CDs verkauft? Ist das sein Nebenjob? „Ich mache das nur so. Ich bin Künstler.
Werde nach dem Sommer auf die UdK gehen.“ Ob er gut verdient? „Es ist wie jeder andere Aushilfsjob auch.“ Er blickt auf die Uhr und wird nervös. Keine Zeit, er muss weiter verkaufen. Denn das „Label“ hat bereits Konkurrenz bekommen; wer mit offenen Augen durch die Stadt läuft, sieht derzeit immer häufiger diese Form des Direktverkaufs. Kein Stadtteil bleibt vom Street Selling verschont. Zumindest beweisen andere Verkäufer und Künstler mehr Stil: Einige lassen die Passanten über den mitgeführten CD-Player in ihre Musik hineinhören.
MARYAM SCHUMACHER