: Hartz-IV-System ist unwirtschaftlich
betr.: „Hartz-Klagen. 50.000 in Berlin“ u. a., taz vom 30. 8. 08
Im Verhältnis zu den Mängeln, die das Sozialgesetzbuch II (SGB II) hat, und der Art, wie es von den häufig schlecht ausgebildeten und oftmals völlig überforderten Mitarbeitern der JobCenter angewandt wird, sind 50.000 Klagen aus meiner Sicht eher moderat. Ein völlig intransparentes System – bei dem die Rechtsanwender in den Behörden oftmals selber nicht wissen, was die Bescheide, die sie erlassen, aussagen und wie sie zu lesen sind – trifft auf Betroffene, die nicht selten angesichts der „Informationsflut“, die das JobCenter per Bescheid regelmäßig verschickt, schlicht resignieren.
So ein Harz-IV-Bescheid kann schnell 30 Seiten und mehr haben, und das JobCenter verschickt gelegentlich innerhalb einer Woche bis zu zehn Bescheide, Anhörungen und Mitteilungen an eineN BetroffeneN. Offensichtliche Fragen, Unstimmigkeiten oder Fehler lassen sich nicht – wie im „richtigen“ Leben – schnell in einem persönlichen Gespräch aus der Welt schaffen. Es ist nahezu unmöglich, „den/die“ zuständige SachbearbeiterIn telefonisch zu erreichen. Rückrufbitten werden nicht selten ignoriert, schriftliche Anfragen nicht beantwortet, und trotz Vorlegen des Empfangsbekenntnisses der Behörde wird schlicht bestritten, überhaupt etwas erhalten zu haben.
Die MitarbeiterInnen der JobCenter in Berlin sind häufig aus dem Stellenpool rekrutiert, kommen an sich aus völlig anderen Zweigen der Verwaltung und werden in Crash-Kursen angelernt. Bei vielen fehlt es an Grundkenntnissen des Verwaltungs- und Sozialrechts (erkennbar etwa an den häufig falschen Rechtsmittelbelehrungen in Änderungsbescheiden). Personelle Unterbesetzung in den JobCentern tut ein Übriges.
Ein Großteil der Klagen dürften Untätigkeitsklagen sein, weil die Behörde es in der vorgesehenen Zeit von drei Monaten nicht geschafft hat, über einen Widerspruch, oder innerhalb von sechs Monaten über einen Antrag zu entscheiden. Es drängt sich der Verdacht auf, dass hinter solcher Praxis System steckt und das Bemühen, Betroffene von ihren Rechten fernzuhalten und sie mürbe zu machen und dafür zu sorgen, dass viele den Weg über den Widerspruch und zum Sozialgericht gar nicht erst gehen. Bei ca. 500.000 Empfängern von Leistungen nach dem SGB II, die alle im Jahr mehrere Bescheide bekommen, relativiert sich so die Zahl von 50.000 Klagen.
Die hohe Erfolgsquote bei Klagen (und auch bei Widersprüchen) sollte allen Betroffenen zu denken geben und Ermunterung sein, es auch zu versuchen, denn es ist ja nicht etwa so, dass die Bescheide der nicht klagenden Harz-IV-Empfänger ausnahmslos in Ordnung sind. Die Dunkelziffer falscher Bescheide, die widerspruchslos hingenommen werden, dürfte etwa ähnlich hoch sein wie die Zahl erfolgreicher Klagen. Die Chancen für Betroffene am Ende besser dazustehen, sind also hoch, das Risiko gering, denn das Sozialgerichtsverfahren ist (zumindest für den/die KlagendeN) gerichtskostenfrei, und möglicherweise setzt sich bei steigenden Kosten für die justizielle Bearbeitung der Harz-IV-Fehlentwicklungen in der Politik auch die Erkenntnis durch, dass das Harz-IV-System dermaßen unwirtschaftlich ist, dass es zu Gunsten eines einfachen, bedingungslosen Grundeinkommens abgeschafft werden kann.
STEFAN SENKEL, Rechtsanwalt, Berlin