: Die hohe Schule der Realness
Die Hip Hop-Academy Hamburg bietet Jugendlichen eine Ausbildung in Disziplinen wie Rap, DJing, Graffiti und Breakdance. Gemacht ist das von der Stadt geförderte Projekt vor allem für Jugendliche aus sozial schwachen Stadtteilen mit Profi-Ambitionen. Nun ist eine Abschlussperformance zu sehen
von MATHIAS BECKER
Wer in der Generalprobe aus der Reihe tanzt, darf keine Nachsicht erwarten: „Mann, wann checkt ihr das: Wenn nur einer seine Moves nicht beherrscht, sieht die ganze Choreografie scheiße aus!“ Metrocs Worte verhallen in der Stille des Saals. 50 Jugendliche zwischen 13 und 19 sitzen schweigend im Halbkreis auf dem Parkett. In die Klamotten der Jungs würde man gut zu zweit passen. In die der Mädchen eher nicht. Tanzen, das lernen sie hier, ist kein Karneval.
Metroc, der mit bürgerlichem Namen Metin Demirdere heißt, ist Breakdance-Trainer der Hip Hop-Academy Hamburg des Kulturpalastes im Hamburger Stadtteil Billstedt. Die städtisch geförderte Talentschmiede bietet jungen Künstlern seit 2007 kostenlose Trainingseinheiten an. Wer sich als begabt erweist, nimmt an einem Ausscheidungsverfahren teil, dessen Dramaturgie an allseits beliebte TV-Casting-Shows erinnert: In „Battles“, also Wettkämpfen, qualifizieren sich 50 Teilnehmer für den Status „Student“, englisch ausgesprochen. Es folgen ein vierwöchiges Sommercamp mit täglichem Training und eine Abschluss-Performance.
Zehn handverlesene „Students“ werden schließlich in die „Master Class“ versetzt, genießen weiteres Coaching und entwickeln ein Programm, mit dem sie zahlreiche Auftritte absolvieren – doch längst nicht alle von ihnen als Tänzer. Die Academy vereint unterschiedliche Genres der Hip-Hop-Kultur: Die einen rappen, andere tanzen. Einige sprühen Graffiti oder machen BeatBox – sie imitieren Rhythmen mit dem Mund. DJs lernen, wie man attraktive Kratzgeräusche mit dem Plattenspieler erzeugt, „Producer“ basteln Songs am Computer. Unter professioneller Anleitung trainiert jeder, was ihm am meisten Spaß macht und wozu er Talent besitzt. Ziel der Academy ist, ihre Teilnehmern für eine Profi-Karriere fit zu machen.
Cem Arslan heißt „Cemo“ wenn er ins Mikrofon sprechsingt. Er hat schon gerappt, da gab es die Academy noch nicht. „Durch das Training hier habe ich gelernt, mich noch mehr ‚on point’ auszudrücken“, sagt der 17-Jährige. Dass er mit Rap mal seine Miete zahlen kann, glaubt er eher nicht. „Es kauft ja keiner mehr Musik.“ Eher sieht er sich als Synchronsprecher.
Oben, unterm Dach des imposanten alten Wasserwerks, das seit 1989 den Kulturpalast beherbergt, stapeln sich die Papiere auf dem Schreibtisch von Geschäftsführerin Dörte Inselmann. Seit sie die Hip Hop-Academy ins Leben gerufen hat, ist aus ihrem Büro gewissermaßen eine Künstleragentur geworden. Fast 5.000 Jugendliche haben bislang an Trainings in Hamburger Schulen und Jugendzentren teilgenommen. Rund 90 Mal standen junge Talente unter dem Dach der Initiative auf der Bühne. Gesamtzuschauerzahl: 27.000. Die Hip-Hop-KünstlerInnen der Academy werden für Stadtteil- und Schulfeste gebucht, im vergangenen Jahr traten sie auch im Rahmen des Reeperbahnfestivals auf. Aktuell sind Shows in Berlin und Marseille im Gespräch. „Wir hatten keine Ahnung, dass das so einschlagen würde“, sagt Dörte Inselmann.
Ausgangspunkt des kreativen Impulses, der über die Stadtgrenzen hinaus spürbar wird, ist Billstedt im Südosten Hamburgs. Der unschöne Begriff „sozialer Brennpunkt“ wurde für Gegenden wie diese erfunden. Unschön, weil er Chancen verunmöglichen und so zur selbst erfüllenden Prophezeiung werden kann. Für die Hip Hop-Academy ist der Ruf des Viertels wohl eher zum sozialen Kapital geworden. Denn wenn Hip-Hop irgendwo glaubwürdig produziert wird, dann an Orten wie diesem. Geburtsstätte der Bewegung ist schließlich die Bronx, nicht Manhattan. Und nichts ist im Hip-Hop so wertvoll, wie „Realness“ – Glaubwürdigkeit.
Auch Breakdance-Trainer Metroc profitiert von seiner „Realness“. Auf einen wie ihn hören die Jugendlichen – auch jene, die eigentlich eher auf niemanden hören. „Früher habe ich viel Mist gebaut“, sagt der 28-Jährige. Dann – er war 14 – kam ihm Breakdance in die Quere. Ein damals äußert unmodischer Zeitvertreib. Zehn Jahre zuvor waren die Tanzakrobaten noch durch ZDF-Fernsehshows getingelt. Mitte der 90er kannte man nur noch Michael Jacksons „Moonwalk“. Umso exklusiver war das Gefühl, ein „B-Boy“ zu sein – einer der Breakdance tanzt.
„Die Hip-Hop-Szene war wie eine Familie für mich“, erzählt Metroc. „Es gab kein schwarz, weiß, dick oder dünn. Es ging nur darum, was in dir steckt. Wie gut du rappen, tanzen, sprühen kannst.“ Er trainierte wie ein Besessener, irgendwann schmiss er sogar die Schule. Heute blickt er auf unzählige Shows zurück, gibt Tanzunterricht, ist Choreograf. Metroc verkörpert den imperativen Mythos der Wettbewerbskultur Hip-Hop: Du hast keine Chance, also nutze sie!
Die Hip Hop-Academy setzt bewusst auf Altmeister. Die nennen sich „Sleepwalker“, „Spax“ oder „Storm“ und haben allesamt ihr Hobby zum Beruf gemacht. „Diese Leute zeigen den Jugendlichen nicht nur, wie sie an ihren Fertigkeiten feilen können“, sagt Geschäftsführerin Inselmann. „Sie bringen ihnen auch die traditionellen Werte der Hip-Hop-Kultur nahe: Disziplin, Zuverlässigkeit, Teamgeist oder Fairness.“ Was der Jugend anderswo der Bolzplatz ist, sind ihr hier Tanzparkett oder Mikrofon.
Auf Kampnagel geben die „Students“ ihre Abschluss-Performance und die „Master Class“ eine erste eigene Produktion am gleichen Abend. Rund 300 Menschen sind in die große Hamburger Spielstätte gepilgert, unter ihnen die Kultursenatorin. Auf einer mit Graffiti verzierten Bühne geben sich Rapper, Tänzer und Beatboxer anderthalb Stunden lang das Staffelholz in die Hand. Ihre Bühnenstücke erzählen von Identität, Konflikten, Liebe – oder einfach nur von Hip-Hop.
Neben bemerkenswerten Fähigkeiten zeigen sie eine geradezu ansteckende Begeisterung. Die Vorführung weckt Erinnerungen an die preisgekrönte Verfilmung des Berliner Jugendtanzprojekts „Rhythm Is It“ und macht deutlich: Der Anspruch der Academy, dem einen oder anderen Talent den Weg zum Profi-Hip-Hopper zu ebnen, ist ein edles Unterfangen. Das wertvollere Angebot, dass sie den Jugendlichen macht, ist der Raum, sich selbst zu testen.
Nächste Termine: 14. 9., 16.00 Uhr, Kulturpalast im Wasserwerk, Hamburg; 18. 9., 19.00 Uhr, Gesamtschule Wilhelmsburg, Hamburg; 2. 11., 19.00 Uhr, Eigenartenfestival im Sprechwerk; Hamburg