Unten-rum-Fragen an den Sexpapst

Geboren wurde Oswalt Kolle 1928 in Kiel. Bereits sein Großvater setzte sich als Medizinprofessor für die Rechte von Homosexuellen ein, Kolles Vater durfte als Psychiater unter den Nazis nicht mehr publizieren. Oswalt Kolle selbst absolvierte nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst eine Ausbildung in der Landwirtschaft. In den Fünfzigerjahren entdeckte er als Boulevardjournalist sein Lebensthema: die sexuelle Aufklärung.

Als Sexualaufklärer wird er 1967 mit der Serie „Das Wunder der Liebe“ für die Illustrierte Neue Revue bekannt. Kolle veröffentlicht ein Jahr darauf das gleichnamige Buch, in der medialen Öffentlichkeit gilt er fortan als „Sexpapst“. Zwischen 1968 und 1972 realisiert Kolle acht verschiedene Aufklärungsfilme. Trotz heftiger Kritik von Kirche, Politik und Medien sehen über hundert Millionen Zuschauer weltweit seine Kinofilme. „Liebe kann man nicht lernen, Sexualität sehr wohl“ – mit diesem Lehrsatz klärt Kolle das Publikum auf. Stilprägend für seine Filme sind die Kommentare, die auf Standbilder folgen. Später schrieb er auch Bücher für den Beate Uhse Verlag.

Nicht nur als Aufklärer der Nation, sondern auch mit seinem Privatleben sorgte er für Schlagzeilen, zum Beispiel aufgrund einer Affäre mit Romy Schneider in den Sechzigerjahren. Später zog Oswalt Kolle nach Amsterdam. Er lebte als Bisexueller achtundvierzig Jahre mit Marlies Kolle in „offener Ehe“, und hatte mit ihr drei Kinder. Seit 2000 ist er verwitwet. Mit seiner neuen Lebenspartnerin lebt er nun – nach eigenen Angaben – in einer „treuen“ Beziehung. Der WDR verfilmte 2002 sein Leben unter dem Titel: „Kolle, ein Leben für Liebe und Sex“. JK

Der Sexualaufklärer Oswalt Kolle hatte dereinst die bundesrepublikani- schen Schlafzimmer gründlich durchgelüftet – und zumindest den Männern ein Stück Freiheit geschenkt. Eine Begegnung zum 80. Geburtstag

VON ANJA MAIER

Oswalt Kolle wartet in einer Berliner Hotellobby. Er möchte zum Gespräch abgeholt und anschließend auch wieder „abgeliefert“ werden. Sein Manager hatte das eindringlich und mehrfach am Telefon verlangt. Aber gern! Der deutsche „Doktor Sex“ sitzt in der Halle gleich vorn bei der Schwingtür, schon von weitem erkennt man den markanten Kopf. Als man ihn anspricht, schaut er auf. Und da sind sie: diese Augen. Braun mit blauen Rändern um die Iris, schöne Augen unter gestutzten Altmännerbrauen. Mit dem Taxi geht es in ein Berliner Restaurant. Er hebt zu sprechen an: freundlich, moduliert, leise vorerst. Im Lauf der nächsten Stunden wird diese Stimme immer mal wieder lauter, am Ende werden sich die Gäste im Restaurant umdrehen – Oswalt Kolle wird sich in Rage geredet haben. Mal wieder.

Was möchte man jemanden fragen, der vor mehr als vierzig Jahren den Bundesbürgern den Spaß im Bett beschert hat? Sex, Sex, Sex – das Thema muss ihn doch langweilen. Sein ganzes Leben musste Oswalt Kolle übers Ficken reden. Jetzt wird er achtzig, ist ein Herr, ein attraktiver alter Herr. Möchte man mit so einem sachkundig über Fellatio räsonnieren? Nein.

Man fragt brav, wie es ihm geht. Er plänkelt zurück: „Gut. Na ja, wenn man in meinem Alter morgens aufwacht und es tut nichts weh, ist man ja tot.“ Er lächelt abwartend: Wann kommt die erste Sexfrage? Die kann warten. Oswalt Kolle kann es nicht. Auf die Nachfrage, worauf man sich im Alter freuen könne, kommt – wamm! – sein erster Textbaustein angeflogen. „Ich sag nur: Passt auf! Wenn es nachlässt, dann müsst ihr an euch arbeiten. Die physiologischen Veränderungen sind zum Teil lange, lange hinauszuzögern, durch Medikamente, Beckenbodengymnastik und so weiter. Denkt dran, dass ihr mit 50, 60, 70 auch noch Spaß haben wollt, Spaß an der Liebe!“

Es ist dies das Problematische an einem Gespräch mit Oswalt Kolle: Dieser Mann musste sich so oft nackig machen, Auskunft erteilen auf Unten-rum-Fragen, dass er zu jedem Gespräch einen mit knackigen Antworten gefüllten Baukasten mitbringt, aus dem er stets etwas halbwegs Passendes ziehen kann. Das ist nicht seine Schuld, eher sein Verdienst. Und was soll’s, er macht das wirklich toll: vom guten alten Rein-raus-Spiel spricht er wie ein barmherziger Prediger, nicht wie ein Casanova. „Zärtlichkeiten austauschen“, „das Prickeln spüren“, „es tun“ – dies ist seine Sprache. Sie stammt aus einer Zeit, als Ehekräche gern mit dem Adjektiv „partnerschaftlich“ umkränzt wurden.

Aber wir sind beim Edelitaliener, um über Achtundsechzig zu reden. Das war ja seine große Zeit. Der Arztsohn aus Frankfurt war damals ein verheirateter Familienvater von vierzig Jahren. Wahnsinnig prominent, wahnsinnig gut aussehend und wirkmächtig an der Sexfront. Während an den Unis und auf den Straßen die verkopften Revolutionäre erst einmal das System abschaffen wollten, bevor sie sich dem ihm innewohnenden Individuum zuwenden würden, war der Journalist Oswalt Kolle bereits ganz nah dran am Volkskörper. Er war Deutschlands Lehrbeauftragter der Liebe, schrieb in Illustrierten Kolumnen mit Titeln wie „Die Liebe zu dritt“, „Macht Selbstbefriedigung impotent?“ oder „Die sexuellen Glücksgefühle der Frau“. Er war eine Art „Doktor Sommer“ für Erwachsene – als diese endlich anfingen, Fragen zu stellen. Dafür wurde Kolle nach Kräften geliebt. Und gehasst.

Noch heute verhält es sich so, dass Oswalt Kolle schier ausrastet, wenn die Rede darauf kommt, wie vor vierzig Jahren versucht wurde, ihn zu boykottieren, wie seine Familie diffamiert wurde, wie Politik und Kirche versucht haben, seine Texte verbieten zu lassen. Vor allem die katholische Kirche hat es ihm angetan. Die, schreit er plötzlich los, säe doch nur „HASS! HASS!“ Er haut mit der flachen Hand auf den Restauranttisch. In seiner Wut bringt er schon mal durcheinander, dass es keineswegs der Papst („Herr Ratz“) war, der Abtreibung mit den Verbrechen von Hitler und Stalin verglichen hat. Das hatte vor dreieinhalb Jahren der Kölner Kardinal Meisner besorgt. Kolles Feindschaft zum Katholizismus ist über Jahrzehnte gewachsen, sie hält ihn warm wie ein gemütlicher Wollpullover. Er hat seither nie wieder einen solch prominenten Gegner gefunden wie die Kirche.

„Das ist die Religion des Hasses“, schreit er jetzt. So laut, dass die Gäste im Restaurant sich nach ihm umdrehen. Manche hier erkennen Oswalt Kolle. Dass sie zu tuscheln anfangen, stört ihn nicht, wohl eher im Gegenteil. Andere Männer seiner Generation werden ruhiger, milder. Kolle aber bestellt sein Themenfeld unaufhaltsam, stur und gern auch richtig laut.

Besorgt schaut man ihm zu bei seiner Tirade. Er ist ja nicht mehr der Jüngste, die schönen Augen haben sich zu dunklen Schlitzen verengt. Warum so zornig, Herr Kolle? „Ich bin ein zorniger junger Mann gewesen, ich bin ein zorniger Alter. Grad neulich habe ich zu meiner Freundin gesagt: Kauf mir doch so einen Eichenstock, mit dem ich dann auf den Tisch hauen kann. Den wünsch ich mir zum Achtzigsten. Ja! So einen Knüppel!“ Er lacht schon wieder.

Also, Herr Kolle, was haben Sie gedacht über die Achtundsechziger? Die haben Sie ja verhöhnt – als „Sexualdemokraten“, als Retter der verhassten bürgerlichen Institution Ehe. Er trinkt einen Schluck Rotwein und gibt selbstbewusst zu Protokoll, als „der geistige Wegbereiter der sexuellen Revolution“ die Achtundsechziger durchaus bewundert zu haben. „Weil die ihre Väter endlich gefragt haben: Was hast du eigentlich gemacht? Das haben Leute wie ich – Journalisten, Schauspieler – nicht gewagt.“

Als die Revolte der Zwanzigjährigen damals begann, war Oswalt Kolle vierzig Jahre alt, ein Familienvater und prominenter Journalist. Er drehte den Film „Das Wunder der Liebe“, jenen Kassenschlager, nach dem die Rede ging, ab jetzt läge der Herr Kolle mit in jedem deutschen Ehebett. Ist das nicht Grund genug, sich aus den Scharmützeln dieser Zeit herausgehalten zu haben? „Da ist ein gewisses Schuldgefühl“, räumt Oswalt Kolle jetzt ein. „Meine Generation, wir waren ja noch dabei, sind gerade noch Soldat gewesen. Wir mussten die Hitlerei mitmachen, und wir sind aus dem Krieg gekommen mit einem ungeheuren Lebenswillen: Liebe! Frei sein! Wir hätten damals die Nazis an den Bäumen aufhängen müssen, die ganze verschissene Bande.“

Das Verdienst der Achtundsechziger sei es gewesen, mit ihren richtigen Fragen die Strukturen brutal aufgebrochen zu haben. „Aber mit Blick auf die Liebe“, er hebt die Brauen und grinst, „waren die auf dem falschen Dampfer. Wir wollten das Gleiche: Freiheit in der Sexualität. Doch die meisten Leute wollen nun mal Zweisamkeit. Und um die habe ich mich gekümmert, das waren meine Leute.“

Man muss sich die Sechzigerjahre in der Bundesrepublik als in sexueller Hinsicht extrem vernagelte Zeit vorstellen. Nach Kriegsende, jener von Kolle als rauschhaft empfundenen kurzen Phase des in jeder Hinsicht befreiten Lebens, griffen ab 1949 antisexuelle Vorbehalte wieder Platz. Aus Lebensfreude erwuchs Schuld, aus Enthemmtheit wurde Schmutz.

Es war die Zeit des Wirtschaftswunders – für „Das Wunder der Liebe“ hatte man keinen Nerv. Im Gegenteil, Frauen hatten wieder treu sorgende Gattinnen und Mütter zu sein. Kondome wurden nur an Verheiratete verkauft, Homosexualität stand noch immer unter Strafe. Es galt der Kuppeleiparagraf, der Vermietern verbot, unverheiratete Paare bei sich wohnen zu lassen. Und Mädchen, die ihre erste Menstruation bekamen, wurde gesagt, sie hätten jetzt auch „die Schweinerei“. Sex war erneut in die Schmuddelecke gesellschaftlicher Wahrnehmung geraten, er wurde wieder zum Verbotenen, Klebrigen, mitunter Kriminellen.

Für Oswalt Kolles Generation hatte die monströse Kriegserfahrung sämtliche bis dahin bestehende Werte restlos zerstört. Moral? Anstand gar? Was für sinnentleerte Kategorien angesichts der ganzen offenbar gewordenen Lügen, der Gräuel. Kolle war siebzehn, als der Krieg endlich vorbei war, jetzt musste gelebt werden. Und es wurde gelebt – zumindest in sexueller Hinsicht exzessiv und frei.

Unter Konrad Adenauer wurden diese Freiräume schnell wieder enger gesteckt. Während es dem Kanzler gelang, die Bundesrepublik wirtschafts- und außenpolitisch neu aufzustellen, versuchte er gesellschaftlich, die konservativen Werte aus der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik wiedererstehen zu lassen – zwecks Begrenzung kriegsbedingter Entgrenzungen. Und die katholische Kirche sprang dem Kölner gerne bei. „Keine Experimente!“ – Adenauers Wahlslogan von 1957 musste den zwölf Jahre zuvor Davongekommenen wie Hohn klingen. Kolle beschreibt den Sexualkonsens jener Zeit so: „Die Männer sind rübergerutscht, weil halt Freitag oder Samstag war – und die Frauen haben zur Decke geguckt.“

All dieser Langeweile setzte der attraktive Herr Kolle in seinen Filmen und Artikeln eine Mischung aus Aufklärung, Praxistipps und Paartherapie entgegen. Sein Credo lautete: „Liebe kann man nicht lernen, Sexualität sehr wohl.“ Mit seinen Wegbeschreibungen zu den erogenen Zonen der Frau, seiner Bezeichnung des Kitzlers als „samtiges Kissen“ wurde er zu einem Aufklärer von Format. „Es kamen damals zehntausende Briefe von Frauen“, erinnert er sich, „die mir über ihre Not beim Sex schrieben. Ich wollte ihnen helfen, weniger unglücklich zu sein.“

Oswalt Kolle kam absolut glaubwürdig rüber, auch weil er selbst lebte, was er predigte. 1953, als Volontär in Frankfurt, hatte er Marlies Duisberg geheiratet. Mit ihr führte er eine offene Ehe. Und nicht nur das – jeder durfte das wissen. Auch aus seiner Bisexualität machte der deutsche Sexpapst kein Geheimnis. Eine große Projektionsfläche für Fantasien, die Ausschweifungen des Aufklärers der Nation betreffend.

Gerade ist Oswalt Kolles Autobiografie erschienen. „Ich bin so frei“ heißt sie, und den Titel kann man getrost wörtlich nehmen. Von Freiheiten seiner Ehefrau ist darin nicht die Rede. Marlies wartete, bis ihr Oswalt erschöpft von seinen Ausschweifungen zurückkehrte. Marlies siedelte mit ihm und den drei Kindern nach Holland über, als in Deutschland der Druck durch die Staatsanwaltschaft unerträglich wurde. Marlies tröstete ihn gar, als er Mitte der Sechziger eine heftige und unglückliche Affäre mit Romy Schneider hatte. „Ich gebe dich frei“, sagt sie in seinem Buch, „ich will lieber einen glücklichen Vater als einen unglücklichen Ehemann.“ Ein Arrangement, mit dem mindestens einer der beiden Partner vollauf zufrieden sein konnte.

Es waren halt ganz andere Zeiten damals. Wie anders, erfährt man bei einem Blick ins Archiv. In der Zeitschrift Jasmin erschien 1968 eine Homestory über die Familie des Sexpapstes. „Der Chef“, wie Oswalt Kolle in der Reportage unironisch genannt wird, bemühe sich „seit neunzehn Jahren, seine Frau darüber aufzuklären, dass Treue etwas ist, das man von einem Hund verlangen kann, aber nicht von einem Mann“. Zweifelt Marlies, „die wohlproportionierte Gattin des 40-jährigen Volksaufklärers“, dies an, „dann kracht es“.

Der Wegbereiter der sexuellen Revolution resümiert in seinem neuerschienen Buch „Ich bin so frei: Mein Leben“ die Zwänge und die herrschende Moral der Sechzigerjahre. Seine Anliegen war es, gegen das Gebot der Jungfräulichkeit, das Abtreibungverbot und die Homophobie anzugehen. Er plädierte für die Befreiung der körperlichen Liebe, und beschrieb die Widerstände der sexuellen Revolution: „Kondome durften nur an Ehepaare abgegeben werden. Es gab den Kuppelei-Paragrafen, nach dem Eltern der Förderung der Unzucht beschuldigt wurden, wenn sie Jugendliche unter 21 mit einem anders geschlechtlichen Menschen in einem Zimmer schliefen ließen. Vor allem der Homosexuellen-Paragraf 175 wurde ganz scharf angewendet.“

Kolle kämpfte für ein Lebensgefühl, das man bis dahin zu unterdrücken hatte: die Lust an der Liebe. Wie kein Anderer zog er damit die Wut der Konservativen auf sich. Doch die sexuelle Revolution war nicht mehr aufzuhalten.

Im Rückblick schildert er, wie seine Bücher und Filme die Nation erregten – und mit welchen Argumenten Psychologen und Sexologen vor den Zensurbehörden argumentieren mussten. „Aber auch wenn ein Film freigegeben wurde, heißt das nicht, dass er unbehelligt gezeigt werden konnte. Oft ging mitten in der Vorführung unvermutet das Licht an. Ich wusste dann, dass es den Zensoren bei bestimmten Szenen wieder in der Hose gezuckt hatte.“

Die Autobiografie von Oswalt Kolle „Ich bin so frei: Mein Leben“ erschien am 1. September beim Rowohlt Verlag, Berlin. Das Buch hat 320 Seiten und kostet 19,90 Euro.

Im Hause Kolle lebten damals übrigens auch „ein Mädchen und eine Sekretärin“, schreibt der Reporter, „und damit der Haushalt sich nicht unerwartet vergrößern kann, müssen beide Angestellte allmorgendlich unter Kolles Aufsicht Anti-Baby-Pillen zu sich nehmen.“ Irre Zeiten müssen das gewesen sein, der coole Kolle muss sich für einen Gott gehalten haben. Er war mit einer Frau verheiratet, die den Jasmin-Reporter mit folgendem Zitat beschenkte: „Schauen Sie, ich bin nicht die Schönste, nicht die Klügste. Gibt es einen plausiblen Grund, dass meinem Mann keine anderen Frauen gefallen sollten?“

Bedenkt man, dass Oswalt Kolle zu dieser Zeit ein Revolutionär war, ein furchtloser Aufklärer, der sich – wenn es seiner Sache diente – mit Frau und Kindern nackt am Strand von Sylt fotografieren ließ, mutet das Selbstbild seiner Ehefrau seltsam verdruckst an. Der Verdacht drängt sich auf, dass sich im Zuge der sexuellen Revolution vor allen Dingen die Männer befreit haben. Den anderen Teil haben die Frauen später selbst besorgt.

Marlies ist vor acht Jahren verstorben, an Brustkrebs, nach 47 Jahren Ehe. Ihr Mann hat ihr damals hinübergeholfen in die andere Welt. Darüber spricht er heute. Nachdem er in den Neunzigern über Sex im Alter ein erfolgreiches Buch geschrieben hat, beweist Oswalt Kolle erneut sein hervorragendes Gespür für die Themen, die seine Generation umtreiben. Nach Krieg, Wiederaufbau, sexueller Befreiung und den sogenannten besten Jahren geht es nun in die Zielgerade. Es ist das Verdienst dieser Kriegskinder, für ihre Nachkommen nun auch noch den Tod zu enttabuisieren. Und an vorderster Front kämpft – wieder mal – Oswalt Kolle.

Für die Nachgeborenen jedoch fällt die Diagnose des deutschen Doktor Sex ungünstig aus. Die These, zu seiner Zeit seien Beziehungen eine einfach geregelte Angelegenheit, Sex hingegen wahnsinnig kompliziert gewesen, während es heute genau umgekehrt sei, weist er zurück. Sex, eine einfache, jederzeit verfügbare Angelegenheit? Ach was! Mit Grausen erinnert er sich an eine „Maischberger“-Sendung, als die Redaktion ihn im Studio mit der als Pornorapperin gehandelten Lady Bitch Ray, „dieser Tante da“, konfrontiert hat. „Das soll Porno sein?“, erregt sich Oswalt Kolle. Erneut wird es bedenklich laut im Restaurant. „Porno, das sind Bücher, Filme, die dazu dienen, dass die Menschen so schnell wie möglich die Hose aufmachen und BAM! BAM! BAM! machen. Das ist Porno! Alles andere ist Erotik, Sexualität. Die Pornografisierung findet in den Köpfen von Journalisten statt“, wettert er jetzt.

Aber geht nicht seine Sprache, jene lyrische Umschreibung von Sex, die ganzen Zärtlichkeiten und das ewige Freudemachen, an der Realität Adoleszenter vorbei? Er selbst fordert doch seit fünfzig Jahren, dass mehr über Sex gesprochen werden müsse. Und das tun sie, die Adoleszenten. Charlotte Roches Buch „Feuchtgebiete“ zum Beispiel haben eine halbe Million Menschen gekauft. „Ich habe es gelesen“, sagt Oswalt Kolle dazu. „Bis Seite vierzig. Die Sprache, die sie benutzt, ist die Sprache, die pubertierende, picklige Jungs an die Wand vom Mädchenklo schreiben. Es ist ja toll, wenn auch Frauen in Sexualfragen ihre eigene Sprache sprechen, wenn sie im Chor mitsingen, ihr Solo. Aber so eine Sprache will ich weder von Frauen noch von Männern hören. Ich finde es widerlich. Ekelhaft. Es macht mir Unlust!“

Und was macht ihm Lust? „Es gibt ja diese Idee, Sex müsse immer spontan sein“, sagt er und lächelt nun wieder. Die Mittagszeit ist vorüber, das Restaurant leert sich, das Taxi zurück ins Hotel ist bestellt. Spontaner Sex sei „Quatsch, süße Träume. Sex mit Verabredung ist viel schöner. Ja, du willst widersprechen“, sagt er und schaut frontal, „aber das ist so eine Illusion, dass man sich gegenseitig die Kleider vom Leib reißt. Dabei kann man das so wunderschön miteinander machen. Da komm ich zu dir, dann empfängst du mich so und so, dann machen wir das und das. Eine Art Drehbuch, herrlich!“

Und Liebe? Was ist mit Liebe? Er beginnt von seiner Freundin zu erzählen. Mit der 67 Jahre alten Jose del Ferro lebt er in Amsterdam „Tür an Tür“, er hat sie zwei Jahre nach Marlies’ Tod kennengelernt. „Ich habe eine wahnsinnig geliebte Frau, die da ist und für mich sorgt. Und dann ist da auch meine Tochter, die auch. Meine zwei Frauen. Manchmal sitze ich so da – meine Tochter auf der einen, meine Freundin auf der anderen Seite. Und dann reden sie über mich. Als wäre ich nicht da, als wäre ich ein Hund: ‚Er hat wieder das und das das gemacht, da müssen wir aufpassen, dass er das nicht wieder macht.‘ Das ist Liebe.“

ANJA MAIER, 42, ist taz-Reporterin. Als Ostlerin hat sie Kolle stets nur im Westfernsehen gesehen. Aufgeklärt wurde sie durch ihre Eltern, die Polytechnische Oberschule und das Leben