„Die Deutschen bunkern sich ein“

Ahmed Rashid, 60, ist Pakistans berühmtester Journalist. Er lebt als Autor und Korrespondent für Pakistan, Afghanistan und Zentralasien in Lahore. Sein Buch „Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad“ wurde nach dem 11. September 2001 zu einem internationalen Bestseller. Es wurde in 26 Sprachen übersetzt und verkaufte sich mehr als 1,5 Millionen Mal. Das Werk dient vielen nach Afghanistan entsandten Entwicklungshelfern und Soldaten als Vorbereitungslektüre. In seinem jüngsten Buch „Decent into Chaos“ (Abstieg ins Chaos), das im Juni erschien, beschreibt Rashid die Lage Afghanistans seit dem Sturz der Taliban. Viele Fragen dieses Interviews behandelt er darin ausführlich. Einen deutschen Verlag gibt es dafür noch nicht. In Indien ist das Buch bereits ein Bestseller. Rashid erhielt zahlreiche Auszeichnungen und gründete den Open Media Fund for Afghanistan, der dort Zeitungsprojekte unterstützt. HAN

INTERVIEW SVEN HANSEN

taz: Herr Rashid, welche Bilanz ziehen Sie sieben Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 vom so genannten Krieg gegen den Terror?

Ahmed Rashid: Al-Qaida hat seitdem in Süd- und Zentralasien enorm expandiert. Es verfügt über neue Basen und hat neue Verbündete wie die pakistanischen Taliban gewinnen können. Es trainiert europäische Zellen, was es zuvor noch nie gemacht hat, und es trainiert Zellen in Nordafrika und im Kaukasus. Nach sieben Jahren sieht dies für die Bush-Regierung nicht nach einer Erfolgsgeschichte aus.

US-General Mullen, der Vorsitzende des Generalstabs, hat bei einer Anhörung im Kongress gesagt: Ich bin nicht davon überzeugt, dass wir in Afghanistan gewinnen. Welche Fehler haben die USA und die internationale Gemeinschaft in Afghanistan gemacht?

Es gibt eine lange Liste von Fehlern. Der erste war, dass die US-Regierung die Invasion des Irak schon während des Krieges 2001 plante. Entsprechend minimalistisch war der Einsatz in Afghanistan: zu wenige Soldaten und zu wenig Geld. Zweitens wiesen die USA die Nato ab, als diese ihre Unterstützung anbot. So blieb die Nato bis 2005 draußen. Eine frühere Nato-Präsenz wäre besser gewesen.

Warum?

Das hätte die Basis internationaler Truppen verbreitert. Außerdem wären die Europäer so früher in die politische Debatte einbezogen worden. Ein weiterer Fehler war, dass die Amerikaner den Taliban erlaubt haben, nach Pakistan zu entkommen. Die US-Politik bestand darin, nur die „Araber“ und al-Qaida zu verfolgen. Vor etwa 18 Monaten merkten die Amerikaner dann plötzlich, dass die Taliban wirklich eine Bedrohung für die Karsai-Regierung sind.

Welche Fehler wurden auf afghanischer Seite und speziell von Präsident Hamid Karsai gemacht?

Erstens ist Karsai nie in die Lage versetzt worden, eine angemessene Zentralregierung zu bilden. Vier Jahre lang haben die Amerikaner die Warlords unterstützt und nicht Karsai. Er bekam kein Geld, und auch die Truppen und die Polizei nicht – bis etwa 2004. Das war eine kriminelle Verschwendung von Ressourcen durch die internationale Gemeinschaft. Denn von 2001 bis 2004 waren die Afghanen nur allzu bereit, mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten. Zweitens hat sich der Westen überhaupt nicht um die in Pakistan wieder stark werdenden Taliban gekümmert. Und drittens hat Karsai selbst nicht entschlossen gehandelt. Er sollte viel härter umgehen mit Korruption und Drogenanbau und -handel.

Der Westen wollte Afghanistan auf die billige Tour befrieden, indem er die Warlords kooptierte statt sie zu entmachten, was die Unruhe zunächst nur noch vergrößert hätte?

Es gab damals eine Strategie des stellvertretenden US-Verteidigungsministers Paul Wolfowitz – ich nenne ihn Warlord Wolfowitz. Die Vereinigten Staaten sollten keine Bodentruppen in Afghanistan außerhalb der Städte einsetzen, stattdessen würden die Warlords für Sicherheit sorgen. Deshalb wurden sie von den USA bewaffnet und bezahlt. Dabei sind diese Warlords in der Bevölkerung verhasst. Die Warlords haben das Geld der Amerikaner gern genommen, aber für Chaos gesorgt. Sie sind in das Drogengeschäft und Kriminalität verwickelt.

Wie kann der massive Opiumanbau in Afghanistan unterbunden werden?

Der große Fehler der internationalen Gemeinschaft bestand darin, nicht von Beginn an zu versuchen, den Drogenhandel zu unterbinden. Nicht durch Zerstörung von Opiumfeldern, sondern durch ein entschlossenes Vorgehen gegen den Handel und die Händler. Zweitens hätte man in die Landwirtschaft investieren müssen. Sieben Jahre lang wurde nicht in Bewässerung, Düngung, ländliche Infrastruktur und so weiter investiert. Jetzt wollen die Amerikaner im nächsten Haushalt zwei Milliarden US-Dollar dafür bereitstellen. Hätte man das doch bloß schon früher gemacht. Dann wären die drei Millionen Flüchtlinge und Rückkehrer nicht überwiegend in die Städte gezogen, sondern in ihre ursprünglichen Dörfer zurückgegangen. Und die Milizen wären leichter demobilisiert worden. Stattdessen wurden sie kriminell.

US-Generalstabschef Mullen fordert bereits eine US-Militärstrategie für Afghanistan und Pakistan. Kann der Krieg in Afghanistan überhaupt gewonnen werden ohne eine gleichzeitige Lösung der Krise in Pakistan?

Das pakistanische Militär hat der afghanischen Taliban-Führung Unterschlupf gewährt. Das ermöglichte den Taliban, sich 2003 neu zu formieren. Die Amerikaner haben Pakistan in den letzten sieben Jahren mit 11,8 Milliarden Dollar unterstützt. 80 Prozent davon ging an das Militär, doch das konnte das Militär nicht zu einer Änderung ihrer Politik bewegen. Das Militär ist sehr einflussreich in den Medien, den Moscheen und in fundamentalistischen Gruppen. Das Afghanistanproblem darf deshalb nicht im Kontext eines einzelnen Landes betrachtet werden. Der Konflikt ist längst regional und bedarf auch einer regionalen Lösung. Denn jetzt kämpfen und trainieren auch kaschmirische Mudschaheddin mit den Taliban oder indische Muslime. Die Bedrohung, die Pakistans Militärs fürchten und sehen, geht von Indien aus. Deshalb müssen auch die Inder einen Beitrag leisten zur Lösung der Kaschmirfrage und den Grenzstreitigkeiten mit Pakistan. Mit anderen Worten: Der Umgang mit Afghanistan erfordert den Umgang mit Pakistan und der erfordert einen Umgang mit Indien.

Warum sollten die Inder zuhören?

In Indien gibt es inzwischen ein wachsendes Bewusstsein. Ein talibanisiertes Pakistan ist das Letzte, was sich Inder wünschen. Auf der anderen Seite müssen die Amerikaner mit dem Iran reden, weil auch der Teil einer Lösung ist. Zur Zeit destabilisiert Iran den Norden und Westen Afghanistans und bewaffnet die Nicht-Paschtunen. Man braucht ein neues UN-Mandat für einen neuen Mechanismus, der Iran, Zentralasien, Indien, Pakistan und Afghanistan einschließt. Man kann sich nicht um jeweils nur ein Land kümmern, sondern muss alle fünf gemeinsam betrachten.

Die Angriffe von US-Truppen in Pakistan nehmen zu, Präsident Bush hat den Einsatz von Bodentruppen abgesegnet, und auch der demokratische Präsidentschaftskandidat Obama befürwortet solche Einsätze. Werden solche Angriffe Pakistan weiter destabilisieren?

Zunächst einmal gehe ich von einer stillschweigenden Übereinkunft zwischen dem pakistanischen Militär und den Amerikanern aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es solche Angriffe ohne Wissen des pakistanischen Militärs gibt. Aber die Auswirkungen werden speziell der zivilen Regierung schaden. Sie ist gerade erst an die Macht gekommen, und man wird sie beschuldigen, eine US-Marionette zu sein. Leider hat die jetzige US-Regierung immer militärische Lösungen für politische Probleme gewählt.

Lassen Sie uns über die Rolle Deutschlands im Afghanistankonflikt sprechen. Der deutsche Innenminister Schäuble wie Verteidigungsminister Jung lehnen den Begriff Krieg für die Situation in Afghanistan ab.

Das ist das absurdeste Argument, das ich je gehört habe. Es gibt dort einen voll entwickelten Aufstand, der durch eine ebensolche Aufstandsbekämpfung zurückgedrängt werden muss, durch die Nato und die Deutschen. Diesen Aufstand zu negieren, wäre Verrat an Afghanistan, an der Region wie an den deutschen Soldaten. Die Deutschen sollten die Situation realistisch beschreiben.

In Deutschland wird nach wie vor zwischen Einsätzen im Rahmen der Operation Enduring Freedom und der Isaf-Schutztruppe unterschieden. Ist dies noch angemessen?

Das ist völlig überholt, beide bekämpfen heute den Aufstand der Taliban. Nur weil die Deutschen das nicht machen, heißt das noch längst nicht, dass Isaf das nicht macht. Diese Unterscheidung ist heute völlig irrelevant. Außerdem kommen jetzt beide unter ein gemeinsames amerikanisches Oberkommando. Diese Argumentation hat damals Joschka Fischer benutzt, um der deutschen Öffentlichkeit einzureden, die deutschen Truppen wären nicht zum Kämpfen da. Das war damals relevant, aber heute ist es unzutreffend.

Die Bundesregierung will bei der im Oktober anstehenden Mandatsverlängerung für den Bundeswehreinsatz auch die Zahl der entsandten deutschen Soldaten um 1.000 erhöhen. Wird das helfen?

Für mich ist entscheidend, was die deutschen Truppen in Afghanistan machen. Ich fordere nicht, dass sie in den Süden gehen sollen. Sie sollten im Norden verstärkt handeln: gegen den Drogenhandel einschreiten, mehr auf Patrouille gehen und den Menschen Sicherheit bieten. Wir erleben im Norden eine Welle der Gewalt. Die Lage hat sich rasant verschlechtert, weil sich die Deutschen zu sehr einbunkern. Außerdem jagen die Deutschen im Norden keine Taliban, obwohl es dort Taliban-Stützpunkte gibt. Die Deutschen scheinen keine offensiven Fähigkeiten zu entwickeln. Was soll passieren, wenn morgen 20 deutsche Soldaten in einem großen Hinterhalt sterben und die Deutschen gehen nicht in die Offensive? Sollen dann die Amerikaner aus Kandahar in den Norden kommen und dort den Kampf für die Deutschen führen? Die Deutschen müssten sich auch stärker im politischen Prozess engagieren und mehr zum Kapazitätsaufbau in Afghanistan beitragen, zum Beispiel deutsche Mentoren für Polizei, Armee und Regierung stellen. Diese Mentoren muss man aber auch schützen, das heißt die Truppen müssen sichtbar sein und dürfen sich nicht in ihren Bunkern verstecken.

Ihr Vorschlag für ein offensiveres Verhalten wird zu mehr toten Soldaten führen. Schon heute ist Umfragen zufolge eine Mehrheit der Deutschen gegen den Bundeswehreinsatz.

Die Bundesregierung muss die Öffentlichkeit aufklären. Das hat die Regierung bisher verweigert. Die deutsche Öffentlichkeit hat keine Ahnung, was vor sich geht, sie weiß nichtmal, was die deutschen Truppen dürfen und was nicht. Einer der Fehler der alten Regierung war, dass Afghanistan, der Irak und die USA als Zusammenhang wahrgenommen wurden. Deutschland schickte Truppen nach Afghanistan, um zu vermeiden, welche in den Irak schicken zu müssen. Die Deutschen sollten wegen ihrer eigenen Sicherheit in Afghanistan sein. Davon muss man sie überzeugen.

Langfassung des Interviews unter: www.taz.de