: Das Verdikt Lars von Triers
Die Autoren und Autorinnen des Sammelbands „Wo/Man. Kino und Identität“ untersuchen die Filme der 90er-Jahre in Hinblick auf einen neuen, emanzipierten Umgang mit den Geschlechterrollen. Ist die Sache mit dem Quoten-Schwulen schon gerichtet?
von INES KAPPERT
„Populäre Kultur ist die Seele jener Gesellschaftsdynamik, die wir als Kapitalismus und Demokratie veranschaulicht haben“, meint der Kultur- und Filmwissenschaftler Georg Seeßlen. In der Marktgesellschaft, fährt er fort, sei die von ihr produzierte Ware erst in der Form der populären Kultur verständlich. Das Kino, Ort einer permanenten Bildproduktion, ist eines der wirkmächtigsten Segmente der Populärkultur. Es wird damit zur zentralen Sinnproduktionsstätte, wobei es die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit überschreitet: „Durch Kinobilder träumen wir uns in die bunte Warenwelt hinein und diese sich in uns.“ Klar, dass der Traum nicht ohne Gewalt und Begehren zu haben ist. Außerdem: Spannung belebt das Geschäft. Aber das Kino formt nicht nur unsere Wahrnehmungsstrukturen, es spielt auch mit unserer Identität. Durch die Identifikation mit den LeinwandheldInnen, durch die Lenkung unseres Blicks attackiert und rekonfiguriert das Kino das (sexuelle) Selbstverhältnis der ZuschauerInnen und hält im dunklen Kinosaal eine spezifische Angst-Lust lebendig.
Seeßlens Aufsatz resümiert unter dem Titel „Geschlecht, Gewalt und Geschäft“ noch einmal die grundsätzlichen Merkmale des Mainstream-Kinos und beschließt damit die soeben im Bertz Verlag erschienene Anthologie „Wo/Man. Kino und Identität“. Zwar erzählt der Text nicht wirklich etwas Neues, aber er steckt vorbildlich das Terrain ab, in dem die Frage nach aktuellen Identitätsstiftungen durch das Kino zu situieren ist. Der Sammelband diskutiert dabei vor allem die Repräsentationsmuster von Geschlechterverhältnissen und Geschlechtsidentität im Publikumsfilm der 90er-Jahre. Denn seit den 90er-Jahren, so stellen die HerausgeberInnen fest, finden immer mehr von der heterosexuellen Matrix abweichende Subjekte ihren Weg als Identifikationsfiguren auf die Leinwand. Waren in früheren so genannten Cross-dressing-Komödien, wie etwa in Billy Wilders „Manche mögen’s heiß“ (1959), die als Frauen verkleideten Männer immer als solche zu erkennen, können die Hauptfiguren in „The Crying Game“ (1992), „M. Butterfly“ (1993) von David Cronenberg oder „Boys Don’t Cry“ (1999) nicht mehr so leicht einem Geschlecht zugeordnet werden. Auch die weit weniger spektakulären Teenagerfiguren in „Girlfight“ (2000) oder „I Will Dance“ (2000) bahnen sich ihren Weg aus schwierigen familiären und sozialen Verhältnissen, in dem sie zwischen männlich und weiblich shiften. So findet Diana über die Aneignung eines ausgewiesen männlichen Terrains, dem Boxring, ihren Frieden mit ihrem Körper und ihrer Umwelt. Das umgekehrte Programm vom Jungen, der Mädchensport liebt und das Ballett dem Boxen vorzieht, wird in Billy Eliots „I Will Dance“ erzählt. Auch hier findet der Held zu sich, weil er sich weigert, ein ordentlicher Mann zu werden, und stattdessen auf seinem Traum vom Tänzer besteht. Hat sich da etwa etwas verändert? Sollte die Tradition, die Mann und Frau als klare Gegensätze definiert und an die ordentliche Erfüllung der Geschlechterrollen ihr Label normal/anormal knüpft, an Einfluss verlieren? Markiert gar das Drängen der als abweichend gekennzeichneten Subjektpositionen in die Mitte der gesellschaftlichen Repräsentanz eine Erosion der patriarchalen Ordnung?
Auch diese Fragen werden dem Marktkriterium „neu“ nicht eben gerecht. Aber die versammelten Autorinnen und Autoren – neben Seeßlen etwa Richard Dyer, Elisabeth Bronfen, Thomas Koebner, Eva Warth, Jens Thiele, Josep Lluis Fecé Gómez, Robin Curtis, Sabine Nessel, Claudia Lenssen und Dietrich Kuhlbrodt – helfen über den ersten Eindruck von „oh je, schon wieder“ hinweg.
Während der Professor für visuelle Medien Jens Thiele dem Mainstream-Kino der 90er-Jahre einen neuen, emanzipierten Umgang mit Geschlechterrollen attestiert, lehnt es der Staatsanwalt a. D., Schlingensief-Darsteller und Filmkritiker Dietrich Kuhlbrodt strikt ab, sexuelle Devianzen im Mainstream mit einer Subversion der patriarchalen Ordnung zu korrelieren. Zumindest in der deutschen Komödie bedeute das Auftauchen des Quoten-Schwulen noch nicht einmal den Ansatz einer Gesellschaftskritik. Man denke etwa an „Der bewegte Mann“ (1994) oder an „Rossini“ (1997). Unisono seien hier die Figuren getrieben von einem unbedingten Willen zur Normalität. Ob schwul oder hetero-trottelig-verwirrt, alle streben sie in die gesellschaftliche Mitte und wollen so normal sein, wie es ihre Konstitution erlaubt. Der Preis für diesen unbedingten Partizipationswillen ist der Ausschluss von Erotik bzw. überhaupt jeder Spannung. Immer wenn’s endlich zum Sex kommt, findet stattdessen elendes Gefummel und Geschrubbel statt: „Homoerotik und Sex werden behauptet und nicht erfahren“, fasst Kuhlbrodt zusammen. Und setzt dieser Prüderie und diesem aseptischen Normalitätsgedümpel das Verdikt Lars von Triers entgegen: Filme müssen als Onanievorlage taugen. Ob damit die Frage nach Geschlecht und Identität beantwortet ist, sei dahingestellt. In jedem Fall sind die assoziative Aneinanderreihung von guten und schlechten deutschen Komödien der 10er-Jahre bis heute und die vielen angerissenen Thesen sehr unterhaltsam und auch inspirierend – auch wenn beim zweiten Lesen nicht so viel übrig bleibt, wie der Eindruck des ersten Lesevergnügens erwarten ließ.
Am redlichsten widmet sich die kanadische Medienwissenschaftlerin und Filmemacherin Robin Curtis der Frage nach dem Verhältnis von Film, Identität und Geschlecht. Und dabei beschäftigt sie sich immerhin mit Birgit Heins schlimm frauenbewegten Film „Baby I will Make You Sweat“ (1995). Aber, so ihre Begründung, der in deutschen „Gender-Ecke“ eher seltene autobiografische Film zeige paradigmatisch die Übersetzung von Identitätserfahrungen in eine spezifische Bildsprache. So produziere Hein mit Hilfe von verlangsamten, extrem grobkörnigen Bildern eine ganz besondere, nämlich haptische Körpererfahrung. Jede ihrer Analysekategorien sorgsam einführend, nimmt Curtis als eine der wenigen AutorInnen den Film als spezifisches Medium ernst. Im Gegensatz etwa zum Beitrag von Elisabeth Bronfen, die ihre Analyse zu kriselnder Männlichkeit als zeittypisches Thema des populären Films rein inhaltlich begründet, also schlicht die Handlung nacherzählt und psychoanalytisch ausdeutet, macht sich Curtis die Mühe, genau hinzusehen und angewandte ästhetische Strategien in ihre Überlegungen miteinzubeziehen. Das hat den schlagenden Vorteil, dass bei der LeserIn nicht nur ein vager Eindruck, sondern ein Bild des Films entsteht, selbst wenn er oder sie ihn nicht gesehen haben.
Weniger identitätsschwanger als in Heins filmischen Ausführungen zu den sexuellen Vergnügungen einer alternden deutschen Frau auf Jamaika geht es bekanntlich in den Filmen von Almodóvar zu. Dass sich so viele SpanierInnen mit seinen Filmen identifizieren, obwohl in ihnen – gemessen an Spaniens Moralkodex – untypisch viele Homosexuelle und Transvestiten, scheiternde Väter und rebellische (Haus-)Frauen auftauchen, erklärt Josep Lluis Fecé Gómez mit dem zeithistorischen Kontext, in dem Almodóvar zu filmen begann. So fällt sein Debütfilm „Pepi, Luci, Bom“ (1980) in die postfranquistische Ära. Mit dem Ende Diktatur begann insbesondere die Mittelschicht eine Popkultur, „movida“ genannt, zu entdecken und zu etablieren. Sie umfasste die Begeisterung für Chanel No. 5, Comics, Popmusik, Punk wie die Boulevardpresse, war eng mit einer homosexuellen Kultur verbunden. Homosexualität wurde hier zum kulturellen Zeichen für diese Zeit des Aufbruchs und des lustvollen Konsums. Gerade weil Almodóvars Filme radikal selbstreferenziell sind und beständig Figuren aus früheren Filmen in den neueren wieder auftauchen, bilden sie, so die These, die Verwirrung und Rebellion einer Generation ab, die „vor 20 Jahren die Straßen und Nächte besetzt hatten, um die Freiheit zu feiern und zu leben“. Und genau dadurch liefern sie (nostalgische) Bilder für eine kulturelle Identität, die – obwohl mit geschlechtlichen Zeichen übersäht – vor allem darauf zielt, die postfranquistische SpanierIn zu identifizieren. So kommt es, dass Schwule, Transen, hysterische Frauen und schwangere Nonnen zum kulturellen Exportschlager eines schwer katholischen Landes werden – zur Freude der Mehrheit seiner EinwohnerInnen.
Warum nun in den 90er-Jahren ausgerechnet das Spiel mit Geschlechtsidentitäten so viel Interesse erregt und ob dies eine Veränderung der Gesellschaftsordnung anzeigt, diese Fragen beantwortet „Wo/Man“ nicht. Einerseits zeugt das von der Rechtschaffenheit der AutorInnen, die sich nicht anmaßen, mit einer Filmlektüre die Welt erklären zu wollen. Aber es ist auch sehr brav und man vermisst dann doch die steile These, die einen neuen Blick oder Denkraum eröffnet. Bleibt also ein sorgfältig gemachtes Buch, das anhand eines Panoptikums der 90er-Jahre-Filme die Fragestellung Kino und Geschlechtsidentität weiter spannend hält.
„Wo/Man. Kino und Identität“. Hrsg. von Christine Rüffert, Irmbert Schenk, Karl-Heinz Schmid, Alfred Tews, Bertz Verlag, Berlin 2002, 14,90 €