: Der Oblomov-Nekrolog
Lenins Rache und Gontscharows Fluch: Die Bremer Kultkneipe, in der ein Diwan hätte stehen müssen, der Tresen aber ein guter Ersatz dafür war, hat in der Nacht zu Sankt Sylvester allem Anschein nach die ewige Ruhe gefunden. In der Feldstraße jedenfalls wird nichts mehr so sein, wie es einmal war
Melancholie. Dieser Zustand, diese Stimmung war das Wesen des Oblomow. Und so soll die Kultkneipe in der Feldstraße in der Erinnerung fortleben.
Natürlich, möglich wär’s auch, sich anlässlich ihrer Schließung in die Historie zu vertiefen und gastro-geschichtliche Fakten zu refererieren. Etwas über jenen ehemaligen Pfarrer zu schreiben, der seinerzeit aus der DDR nach Bremen gekommen war. Der „rüber gemacht hatte“ und hier erfolgreich ein „Kneipen-Imperium“ schuf, indem er kreative Konzepte in die Gastronomie packte. Oder umgekehrt.
Das aber will ich hier und heute nicht tun. Es wäre auch Anmaßung: Ich bin eine Zu-spät-Zugezogene... Selbst von Sandra wird kaum die Rede sein, von der letzten Wirtin des Oblomow, die nun das Lokal vekauft hat und nach Tübingen geht.
Dort wird sie Theologie studieren: Der Kreis hat sich geschlossen, Oblomovs Schicksal scheint besiegelt: In der Sylvesternacht floss dort letzmals der Wodka. Gäbe es noch Hoffnung? Wird es jemals wieder auferstehen, das Oblomow?
Melancholie: Mit dieser seelischen Verfassung hat also das Neue Jahr begonnen. Wie passend: Sie selbst ist ja verantwortlich für Kneipenbesuche, diese unaussprechliche Schwermut, dieser flottierende Weltschmerz.
Fast immer nämlich, wenn es mich in jene winzige, seltsam dekorierte Stube in der Feldstraße trieb, war ich traurig, unruhig – mit einem Wort melancholisch.
Das lag vor allem an ihrem Namen: Dieser war es, der mich Ende der 90er-Jahre in dieKneipe gelockt hatte: Oblomow. Nach dem Roman von Iwan Gontscharow. Ein trauriger russischer adliger „Held“. Ein sympathischer Verlierer, der seine eigene Bequemlichkeit zum obersten Gebot erklärt hat. Einer, der kompromisslos in den Tag hineinlebt und damit seinen inneren Frieden findet. Ein Gefangener seiner eigenen Fantasiewelt, lebensunfähig und doch sehr einnehmend.
Dieser Oblomow, der den Diwan zu seinem Lebensmittelpunkt gemacht hat – er ist verzärtelt, hilflos und verkommen. Einzig die Liebe kann ihn für kurze Zeit aus der Lethargie reißen.
Nach dem Erscheinen des Buches war „Oblomowerei“ ein geflügeltes Wort. Kein Wunder, denn in jedem von uns steckt ein Oblomow, der sich gerne auf den Diwan fläzt, der seufzend in den Tagtraum hinübergleitet und sanft schlummernd ein Nickerchen hält. Ist es nicht so? Sich um nichts zu kümmern, ein friedliches Leben ohne Hast und Sorge zu genießen, die Muße als Daseinsform, wäre das nicht das – ach so trügerische – Ideal , nach dem wir uns sehnen? Wer weiß, dachte ich, wer weiß, und betrat zum ersten Mal das „Oblomow“.
Es war ein Schock. Lenin-Poster, Lenin-Büsten, nur schemenhaft zu erkennen aufgrund der drückenden Rauchschwaden. Denen hatte die Tapete einen Anflug von Röte verliehen: Rot war sie wie die sowjetische Flagge. Da erspähte das sich gerade an die schummrige Beleuchtung gewöhnende Auge auch die goldene Sichel, Hammer und Stern.
Ein schweres, gelblich schimmerndes Kreuz als angeblicher Lichtspender an der Decke. Wodkaflaschen, unzählige Wodkaflaschen am Tresen. (So an die 40 Sorten, wie ich später erfuhr.) Borschtsch auf der Speisekarte.
Wo war nur der Diwan, den der Name versprach? Wo die Träumer, die in ihren Fantasien schwelgten, ohne dabei einen Finger zu krümmen?
Ganz ehrlich: Zuerst war ich entsetzlich enttäuscht. Ja klar, das war wieder so ein Lokal, das angebliche Ostalgie zelebriert, dumm und feist kommunistische Symbole hochhält, nur der witzigen Dekoration halber. Mit der Zeit – und die Zeit verrinnt angenehm langsam am Tresen des Oblomow – erkannte ich dann doch die Träumer, die ich mochte, bedauerte, belauerte, bewunderte. Ich hörte ihre Geschichten. Immer vom Scheitern – aber seltsamer Weise nie hoffnungslos.
Die Poster an der Wand waren irgendwann egal. Ganz nebenbei schien es so, dass die letztlich doch symbolisierten, was Typen wie Oblomow hervorbringen: Eine Revolution gegen ihre Ignoranz, die wiederum an Ignoranz zugrunde geht.
Überwinden konnte ich meine Melancholie dort nie. Aber ich habe mich zu Hause gefühlt. Das ging wohl nicht nur mir so: Künstler, Schauspieler, Regisseure, Musiker, Versicherungsvertreter, Seefahrer, Handwerker, Politiker. So ziemlich jede Gattung Mensch lümmelte und schwatzte, weinte, sang, lachte und soff schon an diesem Tresen: Den Cocktail „Lenins Rache“ zum Beispiel und „Weiße –“ respektive „Schwarze Russen“. Vorzeichen des Untergangs aber gab’s auch: So war’s zuletzt riskant, Café au lait zu bestellen: Quarkartig trieben die weißen Flocken im heißen Koffein. „S’ist halt die letzte Milchtüte gewesen.“ Der Nachschub storniert, denn das Ende ist nah: So geht er vor sich, der allmähliche Verfall einer Institution, von innen nach außen, bis alle Ströme versiegen.
Was nun aus dem Oblomow wird? Keiner weiß das so genau. Gerüchte aber gibt es viele. Das „Konzept“ sei veraltet, sagt man. Das würde es nicht mehr bringen. Wie aber das? Sollte 2003 die Oblomowerei chancenlos sein? Wenn es denn wirklich ohne dieses wohlig dämmernde Refugium für Schwerblüter und Seufzer auskommen soll wird’s ein kaltes Jahr. Sylvester aber war wirklich das letzte Mal, dass Sandra in der Feldstraße am Tresen stand und Wodka ausschenkte. Für die Wirtin, die das Oblomov liebte und zugleich hasste, wie sie einräumt, gibt’s kein Zurück: Sie wechselt von der Theke zur Theologie. „Eigentlich“, findet sie, „liegt doch nichts näher als das.“ Beichten, Träumereien und ideologische Entwürfe musste sie sich wohl eine Menge anhören. Und Trösten gehörte zu ihrem alten genau wie zu ihrem neuen Job. Der Wodka aber, der wird fehlen.
Daniela Barth / bes