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Archiv-Artikel

Nicht betrunken genug

DER FALL ROBERT S.

Vor dem Kieler Landgericht wird zurzeit der Prozess gegen zwei Lübecker Polizisten neu aufgerollt, denen vorgeworfen wird, in der Nacht zum 1. Dezember 2002 den 18-jährigen Schüler Robert S. in betrunkenem und hilflosem Zustand auf einer Landstraße ausgesetzt zu haben. Robert S. wurde kurz darauf tödlich überfahren. Zweimal hatte die Lübecker Staatsanwaltschaft Ermittlungen abgelehnt. Erst 2007 kam es zu einem Verfahren gegen die beiden Polizisten, in dem sie zu einer Bewährungsstrafe von acht Monaten wegen fahrlässiger Tötung verurteilt wurden. Aufgrund der Verzögerungen waren die Tonbandmitschnitte der Polizeieinsätze bereits gelöscht. Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung legten Revision gegen dieses Urteil ein, stattdessen gab jedoch der Bundesgerichtshof einem Revisionsantrag der als Nebenkläger zugelassenen Eltern statt, die einen möglichen Freispruch der Polizisten nicht hinnehmen wollten. Den Polizisten droht nun im zweiten Verfahren ein härteres Urteil, da das Gericht auch den Vorwurf der Aussetzung mit Todesfolge prüft. Die Mindeststrafe beträgt ein Jahr, mit Sicherheit würden die Beamten aus dem Polizeidienst entlassen. Außerdem ist nun nicht mehr Lübeck, sondern das Kieler Landgericht zuständig.

AUS KIEL FRIEDERIKE GRÄFF

Zu Beginn des Prozesses haben die beiden Polizisten eine Erklärung verlesen. Hans Joachim G. sagt, dass er überdurchschnittliche Noten für bürgerfreundliches Verhalten bekommen habe. „Mit den damaligen Erkenntnissen würde ich wieder das Gleiche machen“, erklärt er. „Ich als Vater hätte auch eine Untersuchung gefordert“, sagt der zweite Angeklagte, Alexander M. Er selbst sei Vater von sechs Kindern. „Aber ich bin unschuldig am Tod von Robert S.“

Am frühen Morgen des 1. 12. 2002 wurde der 18-jährige Schüler Robert S. barfuß auf einer Landstraße sitzend überfahren. Er starb noch an der Unfallstelle. Bei der Obduktion stellte man 1,99 Promille Alkohol in seinem Blut fest. Etwa eine Stunde zuvor hatten ihn die beiden Polizisten Hans Joachim G. (58) und Alexander M. (46) acht Kilometer vor Lübeck aus ihrem Streifenwagen aussteigen lassen. Jetzt sind sie wegen Aussetzung einer hilflosen Person mit Todesfolge vor dem Kieler Landgericht angeklagt.

Wäre es nach der Staatsanwaltschaft Lübeck gegangen, stünden sie nicht hier. Die stellte die Ermittlungen gegen die Polizisten im September 2003 ein. Es handele sich um einen tragischen Unglücksfall. Daraufhin beschwert sich der Anwalt der Eltern von Robert S. beim schleswig-holsteinischen Oberlandesgericht und erzwingt die Wiederaufnahme der Ermittlungen. Auch diese werden eingestellt, erneut erzwingt der Anwalt die Wiederaufnahme. Es kommt zum Prozess, das Landgericht Lübeck verurteilt Hans Joachim G. und Alexander M. wegen fahrlässiger Tötung zu 9 Monaten Haft auf Bewährung. Mit diesem Urteil dürfen sie im Dienst bleiben.

Doch Staatsanwaltschaft wie auch Verteidigung legen Revision ein: Sie fordern einen Freispruch. Die Eltern von Robert S., die im Prozess als Nebenkläger auftreten, waren mit dem Urteil einverstanden. Doch angesichts eines möglichen Freispruchs fordern sie nun eine Verurteilung wegen Aussetzung mit Todesfolge. Der Bundesgerichtshof verwirft die Anträge von Verteidigung und Staatsanwaltschaft, lässt aber den der Eltern zu.

Vor Gericht sprechen die Angeklagten und ihre Verteidiger, der schleswig-holsteinische FDP-Chef Wolfgang Kubicki und seine Frau, von dem Verunglückten stets als Herrn S. Die Nebenkläger nennen ihn Robert. Es ist schwierig zu sagen, was das Trostloseste an diesem Prozess ist, in dem es vor allem darum geht festzustellen, ob die Polizisten den hilflosen Zustand von Robert S. hätten erkennen müssen.

Man kann es eigentlich nur aufzählen. Robert S. war in jener Nacht des 1. Dezember mit Freunden in eine Großraumdisco auf dem Land gefahren. Die Jungen hatten schon vorher im Auto Wodka mit Orangensaft getrunken, in der Disco kam noch Bier dazu. Irgendwann verloren die Freunde Robert S. aus den Augen. Als sie nach Hause fahren wollten, suchten sie die Disco ab, fanden ihn nicht und versuchten vergeblich, ihn auf seinem Handy zu erreichen. Einer Freundin gelingt es doch um 3.48 Uhr. „Alles in Ordnung“, sagt er. Und dass er jetzt keine Zeit für lange Telefonate habe. „Er klang normal“, sagt die Freundin vor Gericht.

Um 3.50 Uhr alarmiert das Ehepaar B. die Polizei. Robert S. hat bei ihnen geklingelt und und besteht darauf, dass das Haus kürzlich von seinen Eltern gekauft worden sei. Er ist trotz des vielen Alkohols sehr liebenswürdig. Er wolle hier schlafen, es tue ihm leid, aber die Bewohner müssten nun gehen. Auch gegenüber den Polizisten Hans Joachim G. und Alexander M. beharrt er darauf. Die angeklagten Beamten beteuern, dass sie an einen Spaß glaubten. Alexander M. fragte ihn damals: „Weißt du, wer wir sind? Ich bin Mickey Maus und das ist der Präsident der Vereinigten Staaten“. „Nein, Sie sind Polizeibeamte“, antwortet ihm Robert M. Er redet klar, schwankt kaum, will das Grundbuch bald auf der Wache vorlegen. Frau B. sagt vor Gericht aus, dass sie geglaubt habe, er stünde unter Drogen, weil er sich von keinem Argument erreichen ließ. Die Beamten sprechen einen Platzverweis aus, aber als sie wenig später wieder vorbeikommen, sehen sie Robert M. ganz in der Nähe. „Jetzt ist genug, Freundchen“, sagt Alexander M. Mit seinem Kollegen führt er Robert S., der sich nicht wehrt, zum Polizeiwagen.

Dort, so sagen sie vor Gericht, überlegen sie, was sie mit Robert S. anfangen sollen. Für eine Ingewahrsamnahme in der Ausnüchterungszelle sei er, so glauben sie, nicht betrunken genug. Also entscheiden sie, ihn nach Hause nach Lübeck zu fahren. Der Einsatzleitstelle sagen sie nichts davon. Robert S. telefoniert unentwegt mit seinem Handy. Die Polizisten wollen nicht mitbekommen haben, dass er zweimal den Notruf ruft. Die Tonbandaufzeichnungen dazu sind bereits gelöscht, als sich die Staatsanwaltschaft Lübeck zu Ermittlungen entschließt.

Die Mutter von Robert S., eine schmale Frau in Schwarz, hält einen sehr kleinen Teddybären in der Hand, während sie den Zeugen zuhört. Neben ihr sitzen ihr Mann und ihre beiden Anwälte: Klaus Nentwig, ein sanfter Steuerfachanwalt aus Bad Schwartau, der die Anklage erzwungen hat, was selten gelingt, sowie der Hamburger Anwalt Johann Schwenn, der den Revisionsantrag erstellt hat und viel Kraft darauf verwendet, die eifrige Verteidigerin anzuschnauzen. Die Angeklagten wiederum werfen den Anwälten der Nebenklage Verwirrspiele vor. Man merkt, dass der Prozess wie auch die Medienberichte an ihren Nerven zerren. Und man merkt, dass sie in ihrem Berufsalltag sonst diejenigen sind, die Ansagen machen, statt Fragen zu beantworten.

Die Angeklagten sagen aus, dass Robert S. mehrfach aus dem Auto aussteigen wollte. Die neuen Nachbarn hätten nicht sehen sollen, wie ihn die Polizei nach Hause brachte. Er habe sich ein Taxi nehmen wollen. „Haben Sie nicht angeboten, ihn zwei Straßen vorher abzusetzen?“, fragt der Richter. Alexander M. weiß es nicht mehr. Aber er weiß noch, dass der Junge „freundlich und höflich“ war. „Nicht das Übliche mit Bullenschweinen und so“.

Die Beamten lassen Robert S. an einer Straßenkreuzung acht Kilometer vor Lübeck heraus. „Sie war gut beleuchtet und es fuhren ständig Taxen dort vorbei“, sagt Hans Joachim G. Robert S. hatte seine Jacke in der Diskothek gelassen, er trug nur einen dünnen Baumwollpullover. Die Polizisten sagen, dass sie mit höchstens 20 Minuten Wartezeit für ihn gerechnet hätten. Die Landstraße, auf der Robert S. gegen halb sechs überfahren wird, liegt entgegengesetzt zu seinem Nachhauseweg. Dass er Schuhe und Strümpfe auszog, nennt man unter Medizinern eine Folge der „Kälteidiotie“.

Die Angeklagten waren nicht die Ersten mit einer Art Fürsorge- pflicht, denen Robert S. in der Nacht seines Todes begegnete

Die beiden Angeklagten sind nicht die ersten Erwachsenen mit so etwas wie einer Fürsorgepflicht, denen Robert S. in der Nacht seines Todes begegnet ist. Gegen drei Uhr hatte ihn eine Zivilstreife bewusstlos im Straßengraben gefunden. Die Beamten rufen einen Rettungswagen, als er eintrifft, fahren sie weiter. Ab dann beginnt das Bemühen, sich der Verantwortung für Robert S. zu entledigen. Am liebsten mit einer Unterschrift von ihm.

Der erste Rettungssanitäter, der vor dem Kieler Landgericht aussagt, ist ein freundlicher, pausbäckiger Endzwanziger. Er sagt, dass sie Robert S. „alkoholisiert, aber ansprechbar“ vorgefunden hätten. Deswegen bestellten sie den Notarzt ab, zu einem Alkoholtest sahen sie keine Veranlassung, die Schutzreflexe seien normal gewesen. Robert S. weigerte sich, mit ins Krankenhaus zu kommen, ebenso wenig wollte er die Transportverweigerung unterschreiben, die man ihm daraufhin unter die Nase hielt. „Wir haben uns keine so großen Sorgen gemacht“, sagt der freundliche Rettungsassistent, „er war kein medizinischer Notfall. Aber wir wollten ihn nicht einfach so wieder laufen lassen.“ Warum das so war, obwohl sich die Sanitäter doch eigentlich keine Sorgen machten, sagt er nicht. Sicher ist nur, dass sie Robert S. wieder in die Verantwortung der Zivilstreife übergeben wollten. Sie bitten sie per Funk zurückzukommen. Was dann passierte, bleibt unklar vor dem Kieler Landgericht.

Die Sanitäter sagen aus, sie hätten Robert S. „der Polizei übergeben“. „Eine Übergabe hat nicht stattgefunden“, sagen die Polizisten. Robert S. sei nicht volltrunken und deshalb kein Fall für den Polizeigewahrsam gewesen. Sehr wohl aber einer fürs Krankenhaus, weil sie sich seine plötzliche Zustandsveränderung nicht erklären konnten. Die Mutter von Robert S. weint, als einer der Sanitäter gefragt wird, was sein letztes Bild von Robert S. gewesen sei: „Wir haben ihn gestützt zu den Polizeibeamten geführt“.

Frau B., die Hausbewohnerin, die in der Nacht die Polizei geholt hat, hört am nächsten Tag in den Nachrichten, dass ein 18-Jähriger namens Robert tödlich verunglückt sei. Es lässt ihr keine Ruhe, sie findet die Adresse der Eltern heraus und besucht sie. Nur so erfahren sie, dass ihr Sohn kurz vor seinem Tod in der Obhut von Polizeibeamten war.

Ob auch gegen die Beamten der Zivilstreife und die Rettungsassistenten ermittelt wird, möchte der Staatsanwalt zurzeit nicht sagen. Die Verteidigung von Hans Joachim G. und Alexander M. will auf Freispruch plädieren. Die Nebenklage auf eine Verurteilung im Sinne der Anklage. Das würde eine Freiheitsstrafe von drei bis zehn Jahren bedeuten.