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Archiv-Artikel

Bourgeoisie auf den Barrikaden

Hort des Widerstands gegen den populistischen Präsidenten ist der reiche Osten von Caracas. Die Privilegierten wollen Chávez in die Knie zwingen

aus Caracas INGO MALCHER

Von der Plaza Francia im Osten der Stadt, wo die Reichen leben, bis ins westlich gelegene Zentrum von Caracas sind es mit der U-Bahn gerade mal 24 Minuten. Doch an der Haltestelle Capitolio beginnt eine andere Welt. An der Treppe der Metrostation betteln jugendliche Mütter mit Babys auf dem Arm, die Gegend ist ein Labyrinth aus engen Straßen, zugestellt mit den Verkaufsständen fliegender Händler. Hier gibt es alles zu kaufen: Schminksets und Levi's-Jeans, Papayas und raubkopierte CDs. Aus Stereoanlagen dröhnt höllisch laute Salsamusik, der Strom dafür wird an der Verkehrsampel abgezapft. Am Ende des Gewirrs liegt auf einer Anhöhe der Präsidentenpalast Miraflores.

Auch politisch trennen Ost und West in der venezolanischen Hauptstadt Welten. Das Zentrum ist der Ort, wo Präsident Hugo Chávez seine Anhänger rekrutiert. Für die kleinen Händler ist jeder Tag ein Überlebenskampf, der Erdölreichtum des Landes bleibt ihnen vorenthalten. Die saubere Plaza Francia hingegen ist der Hort des Widerstands gegen den umstrittenen Staatschef. Schon seit über einem Monat campieren dort unter dem Banner „Chávez, hau ab nach Kuba“ seine Gegner. Elegante Damen fahren in sportlichen Cabriolets vor, schwenken die Landesfahne und skandieren „Freiheit, Freiheit!“ – und filmen sich dabei gegenseitig mit der Videokamera.

Die Bourgoisie auf den Barrikaden gegen einen übermütigen Präsidenten. Ein unheimliches Bündnis aus ehemaligen Ölmanagern, dem Unternehmerverband und den Gewerkschaften versucht Chávez aus dem Palast von Miraflores zu jagen. Eine „Verschwörung der Ölmanager“ nennt der den Generalstreik, der seit dem 2. Dezember das Land im Norden Südamerikas lahm legt.

„Die Lösung ist nah“

Jeden Abend gegen sechs Uhr blicken auf der Plaza Francia die aufständischen Priviligierten in Richtung Fernsehschirme. Um diese Uhrzeit gibt die Führungstroika des Widerstands ihre neuen Angriffsziele und Kampfparolen bekannt. Hinter einer Armada von Mikrophonen sitzen dann der ehemalige Ölmanager Juan Fernández, der Chef des Unternehmerverbandes, Carlos Fernández, und der Gewerkschaftsboss Carlos Ortega in seltener Eintracht zusammen.

Und jeder von ihnen hat seine eigene Rolle. Unternehmerboss Carlos Fernández versucht die Reihen der streikenden Unternehmer geschlossen zu halten. Sein Verband Fedecamaras hat die in ihm organisierten Unternehmer zum Streik gedrängt. Weihnachtsgeschäft und Wirtschaftsflaute zum Trotz haben sich in Caracas viele daran gehalten und die Rolläden ihrer Geschäfte heruntergelassen. Shoppingzentren blieben geschlossen. Fernández ist kein großer Redner, und wahrscheinlich will er es sich selbst nicht einmal glauben, wenn er sagt: „Die Lösung ist nah“ – als gelte es, ein Heilsversprechen einzulösen.

Ganz anders der Gewerkschafter Ortega. Er ist der Bluthund der Chávez-Gegner, der den Präsidenten den „Barbaren von Miraflores“ nennt und nach einer Demonstration schon mal behauptet, dass „85 Prozent der Venezolaner auf der Straße waren und Wahlen forderten“. Ortega ist auch derjenige, der seinen Landsleuten verklickert, dass sie gerne „die Bürde auf sich nehmen, Stunden an der Tankstelle zu warten“, weil es wegen des Streiks kein Benzin mehr gibt.

Juan Fernández, ehemaliger Finanzchef des staatlichen Ölriesen PDVSA, schaut dann irritiert zur Seite. Er steht einer Gruppe vor, die sich „Leute des Öls“ nennt. Sie setzt sich aus hohen Angestellten der Ölindustrie zusammen. Gesprächspartner empfängt Fernández in der Business Lounge des Marriott Hotels im Osten von Caracas. Niemals hätte er sich vorstellen können, mit dem Gewerkschafter Ortega einmal Seite an Seite zu stehen. „Meine und seine sind zwei verschiedene Welten, und das ist auch gut so“, sagt Juan Fernández.

Was die Troika zusammenhält, ist die Gegnerschaft zu Präsident Chávez – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Unternehmerchef Carlos Fernández ist besorgt um den Mittelstand und darüber, was Chávez mit dem Recht auf Privateigentum vorhat. Gewerkschaftsboss Ortega unterstellt Chávez, in Venezuela ein zweites Kuba errichten zu wollen, und nimmt es dem Präsidenten persönlich übel, dass der versucht hat, seine Wahl zum Verbandspräsidenten zu verhindern. Und Ölmann Juan Fernández ist nicht damit einverstanden, dass Chávez seine, Fernández’, alte Firma PDVSA als Mittel benutzt, den auf Erdöl basierenden Reichtum Venezuelas gesellschaftlich umzuverteilen.

Ein Staat im Staate

Im Chor sagen die drei von der Opposition: „Chávez ist kein Demokrat.“ Das ist Ortega aber auch nicht gerade. Als am 11. April vergangenen Jahres Militärs Hugo Chávez für zwei Tage aus dem Amt putschten, rief Ortega zum Generalstreik auf. Bevor der Putsch scheiterte, konnte Ortega sich noch rechtzeitig in die zweite Reihe zurückziehen, ehe dies für ihn strafrechtliche Folgen haben konnte.

Was nach Chávez kommen soll, ist so verschwommen, dass Alí Rodriguez, ehemaliger Generalsekretär der Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) und heutiger PDVSA-Chef, von der bürgerlichen Opposition sagt: „Sie sind schlechte Politiker und haben kein Programm.“ Dafür haben sie Personen. Kann sich Juan Fernández vorstellen, Präsident zu werden? „Wenn ich dabei helfen kann, das Land aufzubauen, dann gern.“

Aber wie soll das Land aufgebaut werden? Über 40 Jahre war der Ölriese PDVSA ein Staat im Staate, über vier Jahrzehnte war Venezuela ein einziger Korruptionssumpf aus etablierten Parteien, Gewerkschaften und Firmenbossen. Das Land ist der viertgrößte Erdölexporteur der Welt, und 80 Prozent der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Die öffentlichen Schulen sind oft weder verputzt noch gestrichen. In den öffentlichen Krankenhäusern fehlt es an Schmerzmitteln, wirksame Sozialprogramme haben nie existiert. Für die Armen des Landes hat der übermütige Chávez zum ersten Mal eine Wahlalternative dargestellt. Denn auch sie kennen den Osten von Caracas sehr gut: als Gärtner, Dienstmädchen oder Putzfrau.