: Knorke! Knorke! Knorke
Ein Deutscher Reichstag kennt keine Erkältung oder: Wie ich mal spazierte und gleichzeitig sinnierte. Eine Geschichte über das Buswesen in Berlin und warum viele Schwaben trotzdem an die Spree ziehen. Wegen Stuttgart
Ich steige in den Bus, der dahin fährt, wo ich hinwill, aber als könne er meine Gedanken lesen, hält er einfach vor dem Deutschen Reichstag. Er muss sich in einen anderen Bus verwandelt haben. Oder der Reichstag war mal kurz ausgetreten und hat nicht zurückgefunden. Oder alle Busse fahren sowieso immer am Reichstag vorbei. Naja, so hab ich ihn wenigstens mal gesehen. Hab schon verpasst, wie er eingewickelt war. „Monumentalismo alemán total“ hatte es mein spanisches Exfreundinnen-Desaster genannt. Ja, ja, monumental, deutsch, geizig, genau wie ich. Das hatte sie doch sagen wollen.
Ich bin immer ganz elektrifiziert, wenn ich so durchs Brandenburger Tor gleite wie auf Engelsschwingen. Es ist aber auch anstrengend, sich auf historische Gefühle zu konzentrieren. Vor allem, wenn man eigentlich in die andere Richtung muss. Aus der Ferne winkt er ja schon aufgeregt, der Potsdamer Platz. Ich muss da jetzt wohl oder übel zu Fuß hin. Und wie auf Bestellung ist es sofort so windig wie noch nie in meinem Leben, und meiner Jacke fehlt ein Knopf, genau da, wo die Bronchien sich aufhalten und an ihrer berühmten Bronchitis feilen. Egal, ein Deutscher Reichstag kennt keine Erkältung. So ein Spaziergang durch Berlin, das kann man ja mal machen.
Es gab doch mal dieses wissenschaftliche Projekt, wo auf einer Karte eingetragen wurde, wohin ein Mensch gegangen ist im Lauf des Jahres. Daraus ergaben sich pittoreske aussagekräftige Muster.
Bei mir wäre es ein Tintenklecks geworden, direkt auf der Schönhauser Allee. Mit einer kleinen Beule zur Torstraße und einem dünnen Strahl Richtung Friedrichshain. Ich brauch gar nicht so viel Berlin um mich herum, die könnten ruhig was davon spenden für die ganzen andern. Ich will es mal von der guten Seite sehen: so eine halbe Stunde zu Fuß, da findet man zu sich. Und wenn man ankommt ist man ein anderer Mensch.
Auf dem Weg stelle ich fest: Wenn man ein Plakat fünfzigmal nebeneinander auf einen Bauzaun klebt, bemerkt es auch einer wie ich. Wer spielt da? Jean-Michel Jarre? Was hat der mich gequält im Ferienlager, wo jeden Tag dreimal über Lautsprecher eines seiner elektrischen Lieder lief! „Oxygène“ hieß das. Jetzt singt er was, was „Metamorphose“ heißt, auch nicht besser. Als Nächstes kommt sicher „Photosynthèse“. Da geh ich jedenfalls nicht hin. Wenn ich schon Geld ausgebe, dann für einen Amerikaner. Da bin ich ganz Kulturoptimist. Was wollte ich noch mal am Potsdamer Platz? Ach so, ich wollte mit dem Bus hierher fahren. Und weiter? Weiß ich nicht.
Da fällt mir ein, dass ich neulich in einer Stadt, die von allen Stuttgart genannt wird, genauso ziellos rumgelaufen bin. Das hatte ich schon völlig verdrängt. Dabei war es erst vorgestern gewesen. In Stuttgart spielte auf dem windigsten Platz Deutschlands eine Kapelle das Lied „Marina, Marina, Marina“. Ich bin einmal durch die ganze Stadt gelaufen, da stand ich schon wieder auf diesem Platz, und sie spielten wieder „Marina, Marina, Marina“. Dieses Lied hat mir dann den ganzen Tag in der Ohrmuschel geklebt und abends angefangen zu eitern. Es ist sicher auch von Jean-Michel Jarre. Ein Frühwerk.
Eines muss man Stuttgart lassen: Man kann sich hier aus der Nähe angucken, warum so viele Schwaben nach Berlin kommen. Sie wollen nicht mehr dort leben, wo der Fleischer Wurstboutique heißt. Ach, es ist ja so leicht, immer alles schlecht zu machen, aber in Stuttgart ist es schwer, irgendetwas gut zu finden. Hier an einem windigen Tag an Ohrenentzündung zu sterben, wäre ein trauriger Tod. Das Schlimmste an der Menschheit sind sicherlich die Menschen, habe ich in Stuttgart gedacht.
Man fragt sich ja immer: Für all diese jämmerlichen Gestalten soll mal leidenschaftlich kopuliert worden sein? Na ja, vielleicht ist es ja auch aus Versehen passiert, beim Umdrehen. Ich muss hier raus, hab ich mir in Stuttgart gesagt, ich muss nach Berlin, ich muss den Reichstag umarmen und den Potsdamer Platz auf den Mund küssen, einen Berliner essen und knorke sagen, ohne gleich dafür eingesperrt zu werden.
Und jetzt stehe ich hier am Potsdamer Platz und brabbele vor mich hin: Knorke! Knorke! Knorke! Und es tröstet mich kein bisschen. JOCHEN SCHMIDT