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Archiv-Artikel

Die Alte Post in Neukölln geht ab

Das Neuköllner Theaterprojekt „Heimathafen“ bespielt die Alte Post in der Karl-Marx-Straße mit modernen Volkstheaterstücken. Gezeigt werden: Revuen, Bürostücke und Charity-Shows mit gesellschaftskritischem Anspruch

Einen handgeschriebenen Brief hat die Regisseurin Stefanie Aehnelt schon lange nicht mehr verfasst. Freunde bekommen von ihr eine E-Mail oder eine Postkarte aus dem Urlaub. Ihre Stücke schreibt sie am Computer nach der bewährten Copy-Paste-Methode. Dass die von Aehnelt im vergangenen Jahr initiierte freie Theatergruppe „Heimathafen“ aus jungen Berliner Theaterschaffenden seit vergangenem Freitag die ehemalige Paketausgabe der Alten Post in der Karl-Marx-Straße bespielt, hat deshalb auch etwas mit Nostalgie zu tun. „Wenn man sich einmal damit auseinandersetzt, was die Post mal für eine gesellschaftliche Bedeutung hatte und für viele Leute auch heute noch besitzt, dann kommt man von dem Thema nicht mehr los“, sagt sie.

Wieso schreiben Menschen Briefe? Wie vertreibt sich der Postbeamte seinen Tag? Wie arbeitet ein Briefträger? Und was passiert, wenn seine Stelle wegen eines billigen privaten Paketzustellers wegrationalisiert wird? Diese und andere Fragen richteten Aehnelt und ihre neun Mitstreiter an ehemalige Kunden und Postmitarbeiter. Aus ihren Geschichten und Erfahrungen strickten sie das Rohmaterial für die Stücke, die sie großenteils anlässlich der Reihe selbst neu verfassten. Auch für das Bühnenbild ging die „Heimathafen“-Gruppe nach dem Prinzip vor: Wer sucht, der findet. Sie ersteigerte kiloweise alte Briefe, baute eine mit gelben Aufklebern dekorierte Bar für das „Schalterbier“ und die „Postbrause“ und bekam aussortierte Bürogegenstände und Skurrilitäten wie ein Postleitzahlen-Puzzle oder großformatige Verordnungen im unverständlichen Bürokratenjargon von ehemaligen Postbeamten geschenkt.

Die ehemalige Paketausgabe, eben noch eine unwirtliche leerstehende Halle von 250 Quadratmetern – vor fünf Jahren zog die Post ins gegenüberliegende Einkaufszentrum –, beherbergt nun ein Sammelsurium, das man ruhig vor Vorstellungsbeginn gründlich erkunden sollte. Doch was verbirgt sich hinter dem Vorhaben eines „modernen Volkstheaters“ in Neukölln, das sich die Gruppe auf ihre Fahnen schreibt? Stefanie Aehnelt verweist hier auf die alte Theatertradition in Rixdorf, die sie gerne neu beleben möchte: „Vor allem in Kneipen wurde früher Theater gespielt, bei dem es um die Menschen und ihre alltäglichen Probleme und Geschichten ging. Und alle Schichten hatten dort ihren Platz, vom Richter bis zum Hausmädchen. Dramaturgin Anne Freybott ergänzt: „Die soziale Lage in Neukölln ist natürlich heute eine ganz andere als vor hundert Jahren. Aber auch sie lässt sich auf die Bühne bringen. Aber eben nicht nur belehrend, sondern vor allem unterhaltsam.“

Bereits im Juni wurde die temporäre Theaterbühne anlässlich der „48 Stunden“ Neukölln kurzfristig eröffnet und bespielt. Jetzt geht es in die dichtgedrängte Herbstsaison mit über dreißig Vorstellungen. Die Premiere gab am Freitag das Stück „Die Drei von der Paketausgabe“, bei dem die drei Angestellten keine Beschäftigung haben, weil keine Kunden kommen. Das gibt ihnen die Gelegenheit, einmal über die möglichen und tatsächlichen Gegenstände in den Paketen zu spekulieren und sich nach ihren eigenen Wünschen zu fragen, die im Alltag des Schalterlebens zu kurz kommen.

„Liebespostessen“ – auch das eine Premiere – führt den Zuschauer in die Welt der weiblichen Postangestellten, die ihrem langweiligen Arbeitsalltag und ihren mageren Verdienstmöglichkeiten durch das Verfassen origineller Liebes- und Abschiedsbriefe Abhilfe schaffen. Beide – männliche wie weibliche – Postangestellte sind prollig und witzig, ihre Typen und Dialoge laden zum Schmunzeln ein.

Zwar liegt der Unterhaltungswert oft über der tiefgründigen gesellschaftskritischen Relevanz, doch das muss nicht schlecht sein, hat man doch über Neukölln sonst eher selten etwas zu lachen. Und so geht es bis Mitte November weiter mit Chansons, Revuen und Gassenhauern zu sozial verträglichen Preisen. Und wer Theater ohne das klassische Bühnenprinzip mag und außerdem noch etwas von Neukölln sehen möchte, dem sei der Stadtrundgang „Haushalte mit Tagespost“ empfohlen, bei dem ein „echter Postbote“ die Zuschauer an die Stationen seiner alltäglichen Tour entführt.

JESSICA ZELLER

Heimathafen Neukölln, Alte Post, Karl-Marx-Str. 97–99, Eingang Anzengruberstraße, www.heimathafen-neukoelln.de, Karten 6 bis 10 Euro, Tel. (030) 36 42 07 09 oder karten@folxperlen.de