Leerstellen

Die Einweihung des neuen Büros beginnt harmlos und endet im Zwiespalt. Noch liegt das Treppenhaus zur ehemaligen Fabrikhalle im Dunkeln und weist einzig ein altes Emailschild den Weg zum Eingang. Bekannte luden zur Bürobegehung und demonstrieren nun voller Stolz die ehemaligen Heizrohre hier, die dekorativen Stechuhren dort und überall ein bisschen Patina. Viel Geld bezahlten sie für die Konservierung des Vergangenen, das frei von Bedeutung die Räume dekoriert. Belassene Leerstellen findet sich mancherorts, es sind meist Orte – vielleicht auch nur eine Trouvaille –, die ihre einstige Funktion verloren haben und jetzt Atmosphäre offerieren sollen. Das mag egal und vor allem Geschmackssache sein, und doch – warum bloß gefallen Brachen so sehr, dass sie künstlich und oft mit Geld geschaffen oder zumindest kultiviert werden? Die Industrialisierung beanspruchte Raum, der plötzlich nicht mehr gebraucht wird. Mittel und Wege fanden die Unternehmer, um ihre Produktionen sowohl an Arbeitskräften als auch im Raum zu reduzieren. Die Firmen zogen in ferne Freihandelszonen und hinterließen hierzulande stillgelegte Fabriken, teils verlassene Quartiere. Das nutzlos gewordene Terrain wird gerne von der Clubkultur, den Planern von Guerillastores und Wagemutigen für ihre Lofts beansprucht. Sie meinen verlassenes Gebiet zu entdecken, legen die Orte und ihre Objekte frei, um sie mit neuer Bedeutung aufzuladen. Nutzlos gewordene Kohleöfen werden poliert, Lieferanten- zu Haupteingängen gemacht, Maschinenteile gewollt drapiert und Schilder mit alten Schriftzügen entstaubt. Die Veränderungen sind teils minimal – Bakelit-Schalter und originale Armaturen nochmals instand gesetzt, im Ernstfall etwas übertrieben. Etwa wenn ein Museumsglas vor dem alten Tapetenstück montiert wird, das vor Fingerabdrücken schützen soll.Was bleibt, ist die Atmosphäre des Verlassenen. Und diese berauscht. Plötzlich fühlt man sich als Pionier, der das Verlassene nachträglich entdeckt, ohne unter dessen Ursache gelitten zu haben. Die Klagen darüber, dass der Raum jetzt leer steht, formulieren andere. Vage steht die Frage im Raum, ob die Verdrängten freiwillig gingen und wer sich Pionier schimpfen darf? Die Bemerkung „keine Ahnung, wo, aber in einer Fabrikhalle“ ist für manche eine Garantie für eine lange Nacht. Von New York über London bis Berlin speisen und tanzen sie in den heruntergekommenen Fabrikhallen. Das Adjektiv „heruntergekommen“ würdigt die renovierten Überbleibsel der Industrie mittlerweile nicht mehr ausreichend – die Toiletten werden zwar salonfähig gemacht, die Atmosphäre aber bleibt der Tanzhalle vorbehalten. „Cleaner Trash“, spotten die Kritiker, „authentisch“ kontern die Planer. Die wiederentdeckten Räume servieren zahlreiche Zitate vergangener Dramen. Die gebrauchten Gasmasken in den Kellergewölben einer Party stimulieren Stimmung und Fantasie. Allein die Aura der alten Gemäuer garantiert gelebte Geschichte. Dem Kunstsammler Boros, der sich ein Loft über einem der ehemaligen Hochbunker in Berlin einrichtete, war es wichtig, das Gebäude so authentisch wie möglich zu belassen. Zum einen, weil das Gebäude unter Denkmalschutz steht, aber auch, um Geschichte nicht vergessen zu lassen. Mit Authentizität sind hier Einschusslöcher aus dem Krieg gemeint, die von der vergangenen Geschichte des Bunkers erzählen. Niemand aus einem Kriegsgebiet würde sich wünschen, in einem Haus mit Kriegsspuren zu leben. In den Gebieten, in denen seit den 1990er-Jahren ganze Fabrikgelände leer stehen, werden die verlassenen Räume, die die Trostlosigkeit entlassener Fabrikarbeiter dokumentieren, auf ihre Ästhetik reduziert. Je aufgeräumter der Alltag, desto interessanter ist das – wohl dosiert – Improvisierte. Besonders dort, wo die Brachen rar und somit begehrt sind. Die Atmosphäre balanciert dann irgendwo zwischen unheimlicher Kulisse und beklemmender Science-Fiction. Die Ästhetik des Verlassenen wirkt. Zumindest bis drei Minuten nach dem Abschied auf der Einweihungsfeier des neuen Büros, als der Warenlift stecken bleibt. Die Sekretärin findet zwar die Telefonnummer des Betreibers – bemerkt aber irritiert, dass der Anschluss nicht mehr in Betrieb ist. GINA BUCHER