Vom Hören des Raumes

Am Samstag wurde Karlheinz Stockhausens „Gruppen“ in einem Hangar des Flughafens Tempelhof gegeben. Drei Orchestergruppen verteilten sich im Raum, das Publikum saß dazwischen und durfte Plätze tauschen

Manche Musik wird auch deswegen so selten aufgeführt, weil sie furchtbar viel Platz braucht. Als Karlheinz Stockhausen sehr jung war, in den Fünfzigerjahren, schrieb er sein revolutionäres Orchesterstück „Gruppen“. Der Titel ist so schlicht wie vielschichtig. Er verweist sowohl auf die neuartige, gleichberechtigte Beziehung der einzelnen Instrumentengruppen zueinander als auch auf die Behandlung des musikalischen Materials und verkündet nicht zuletzt, in welcher Formation hier musiziert wird: in drei Orchestergruppen, die von drei Dirigenten geleitet werden und für die insgesamt genau 109 Musiker benötigt werden. Das Publikum sitzt nach Möglichkeit zwischen den Gruppen.

So ein Arrangement lässt sich in den allermeisten Konzerthäusern kaum befriedigend realisieren. Glücklicherweise gibt es ja in Berlin einen Flughafen zu viel, dessen riesenhafte Gebäude zum Teil jetzt schon als Veranstaltungsort genutzt werden. Und so zog das Musikfest Berlin, das dieses Jahr einen deutlichen Schwerpunkt auf drei sehr unterschiedliche Komponisten mit katholischem Hintergrund legte – Bruckner, Messiaen und Stockhausen – zum Finale am Wochenende in den Hangar 2 des Flughafens Tempelhof.

Dem Abschlusskonzert, das die Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle an zwei Abenden bestritten, ging ein etwas kleineres Event voraus: Im Rahmen des Education-Programms der Philharmonie hatten sich zwei Berliner Schulklassen mit seriellem Komponieren beschäftigt, um, in Anlehnung an „Gruppen“, ein eigenes Stück zu entwickeln und aufzuführen. Während der Darbietung durfte, der besseren Wahrnehmung des Raumklangs wegen, in der Vorhalle des Hangar umhergewandelt werden, was viel Charme hatte. Diese Art von Bewegung im Raum wäre später beim Konzert der Philharmoniker angesichts des ausverkauften Hauses wenig entspannend gewesen. Dafür fanden sich auf jeder Eintrittskarte zwei verschiedene Sitzplätze vermerkt, so dass man Stockhausen einmal im vorderen Teil, zwischen den Orchestern sitzend, einmal im hinteren Teil der Halle hören konnte.

Zunächst aber wurde Messiaen gegeben, zu dessen Schülern Stockhausen gezählt hatte. Messiaen, der Vogelfreund, der sein Leben lang als Organist arbeitete, schrieb Musik, die hörbar ins Transzendente strebt und programmatische Titel trägt wie „Et exspecto resurrectionem mortuorum“. Das der Auferstehung der Toten gewidmete fünfteilige Werk ist der perfekte Einstieg für den Abend, denn wenn ein Stück geeignet ist, einen Raum von 4.200 Quadratmetern warmzuspielen, dann dieses. Die philharmonischen Bläser und Schlagzeuger haben ganz ohne Streicherbeiwerk Gelegenheit, zu zeigen, was sie können, und entwerfen unter dem sehr konzentrierten, unpathetischen Dirigat von Simon Rattle einen gewaltigen Klangraum. Berge ragen auf, die Lerche fliegt, Kuhglocken und ein riesiger Gong wecken die Toten in einer so überirdischen Lautstärke, dass Mark und Bein erzittern.

Danach ist der Raum weit offen für den weitaus intellektuelleren Genuss von Gruppen. Es wird zweimal gespielt, was sehr hilft, denn beim ersten Mal hört man zwar, was spannend ist, den Klang durch die Halle wandern, versteht allerdings sonst nicht viel. Beim zweiten Mal scheinen schon einzelne Bezüge durch, auch wenn man den komplexen Rhythmusverschiebungen durch bloßes Hören nicht folgen kann. Die wenigen Stellen, an denen die Orchester synchron spielen, verschaffen den Hörern Momente der Entspannung, den Dirigenten – neben Rattle sind das Daniel Harding und Michael Boder –, die über fünfzig Meter hinweg Blockkontakt halten müssen, Momente der Schwerstarbeit. Es war ein denkwürdiger Abend. KATHARINA GRANZIN