Beweise haben sich verflüchtigt

Nicht ganz auszuschließen ist, dass Irak vorhandene Altbestände tatsächlich vollständig zerstört hat, ohne diese Zerstörung jedoch zu dokumentieren

von ANDREAS ZUMACH

„Was ich hier in der Hand habe, Herr Butler, ist eindeutig eine Teetasse“, erklärte Iraks Außenminister Tarik Asis und streckte dem australischen Chef der UNO-Waffenkontrollkommission (Unscom) sein noch halbvoll mit Pfefferminztee gefülltes Trinkgefäß entgegen. „Ihre Behauptung, dass das eine Teetasse ist, müssen wir erst noch überprüfen“, antwortete Richard Butler.

Die surreal anmutende Szene fand im August 1998 in Bagdad gegen Ende stundenlanger diffiziler Diskussionen über den Verbleib von chemischen und biologischen Waffen sowie dafür benötigter Grundsubstanzen statt. Am Ende trennten sich beide Seiten im Dissens. Es war die letzte offizielle Begegnung der Unscom mit der irakischen Führung. Richard Butler verließ unmittelbar nach dieser Sitzung den Irak und kehrte nie mehr zurück. Mitte Dezember 1998 wurden sämtliche Unscom-Inspektoren wegen der unmittelbar bevorstehenden US-amerikanisch-britischen Bombardements aus dem Irak abgezogen. Am Ende der Sitzung stand Butler der Schweiß auf der Stirn. Tarik Asis wirkte so wach und frisch wie zu Beginn der Sitzung. Für die Nachwelt festgehalten wurde die hochspannende Veranstaltung von einer Videokamera.

Hans Blix, der Chef der Unscom-Nachfolgekommission Unmovik, der gestern vor dem Sicherheitsrat seinen Zwischenbericht vorlegte, wird bei seinem für Ende nächster Woche angekündigten Besuch in Bagdad im Wesentlichen da anknüpfen, wo Butler im August 1998 aufgehört hat. Denn die damals offen gebliebenen Fragen hat die irakische Führung auch in ihrem Anfang Dezember beim UNO-Sicherheitsrat abgelieferten Rüstungsbericht aus Sicht der Unmovik zum großen Teil nicht oder zumindest nicht zufriedenstellend beantwortet.

Es geht um – inzwischen so bezeichnete – Altbestände an C- und B-Waffen und dazu benötigte Grundsubstanzen, die Bagdad bis zum Golfkrieg vom Frühjahr 1991 produziert beziehungsweise aus dem Ausland importiert hatte. Die Unscom-Inspektoren zerstörten zwischen Mai 1991 und Dezember 1998 rund 90 Prozent der Bestände, die sie selbst im Irak aufgespürt hatten, und machten die vorgefundenen Produktionsanlagen unbrauchbar. Die restlichen zehn Prozent der tatsächlich vorgefundenen Altbestände wurden von den Unscom-Inspektoren zwar registriert und an ihren Fundorten versiegelt, konnten aber wegen des überhasteten Abzugs der Inspektoren nicht mehr zerstört werden.

Darüber hinaus hatte die Unscom auf Grund von Dokumenten, die sie in Bagdader Regierungstellen vorfand, den Verdacht, dass im Irak noch weitere Vorräte an B- und C-Waffen oder zumindest von Grundsubstanzen existieren müssen. Anlass für diesen Verdacht waren vier Indizien: von der Unscom vorgefundene Regierungsdokumente; die Kapazitäten bestimmter Rüstungsproduktionsstätten oder chemischer Fabriken; die durch Ermittlungen bei ausländischen Firmen festgestellten Mengen in den Irak importierter Grundsubstanzen; und Aussagen irakischer Wissenschaftler.

Die beiden Standardantworten der irakischen Führung auf entsprechende Vorhaltungen der Unscom lauteten: Die Vermutungen sind falsch oder wir haben diese Waffen und Grundsubstanzen bereits eigenständig zerstört. Der Forderung der Unscom, diese unilaterale Zerstörung durch Dokumente zu belegen, kam die irakische Führung nicht nach mit dem Argument, diese Dokumente existierten nicht mehr. Das damalig Geschehen sei, wenn überhaupt, nur noch aus der Erinnerung damals beteiligter Personen zu rekonstruieren. Die Antworten Bagdads an die Unscom bis zum Jahr 1998 werden in dem aktuellen Rüstungsbericht an den Sicherheitsrat zum Teil wortgleich wiederholt.

Die größten Differenzen zwischen der irakischen Führung und der Unscom beziehungsweise der heutigen Unmovik existier(t)en im Bereich biologischer Waffen. Erst 1995 hatte Bagdad überhaupt ein B-Waffen-Programm eingeräumt. Die Unscom äußerte seinerzeit den Verdacht, dass dieses Programm sogar noch nach Ende des Golfkriegs vom Frühjahr 1991 weiter betrieben wurde. Blix monierte gestern vor dem Sicherheitsrat, dass in Bagdads Rüstungbericht Angaben zur Produktion und zum Verbleib des Milzbranderregers Antrax fehlen. Die Unscom geht in ihrem Abschlussbericht von Ende 1998 davon aus, dass Irak dreimal so viel Antrax und 16-mal so viel Wundbrandgas produziert hat, wie die Führung in Bagdad eingeräumt hat. Differenzen gibt es auch weiterhin über die Zahl der Sprengköpfe, die Bagdad mit Antrax gefüllt hat.

Ähnliche Diskrepanzen bestehen im Bereich der Chemiewaffen. Über eine halbe Stunde lang stritten sich Butler und Asis bei der Begegnung im August 1998 über die Frage, ob Bagdad einsatzfähige Sprengköpfe mit dem Giftgas VX hatte oder nicht. Butler verwies damals auf Untersuchungen in drei ausländischen Labors, bei denen an Sprengköpfen Spuren von VX-Grundsubstanzen festgestellt wurden.

Weiterhin ist nicht auszuschließen, dass es auf die Fragen nach dem Verbleib tatsächlicher oder angeblicher Altbestände an C- und B-Waffen eine harmlose Erklärung gibt. Möglicherweise beruhte der Verdacht der Unscom zum Teil auf falschen Dokumenten, Aussagen und Berechnungen. Vielleicht hat Irak vorhandene Altbestände tatsächlich vollständig zerstört, ohne diese Zerstörung zu dokumentieren. Ein Teil der Waffensubstanzen könnte sich über den langen Zeitraum von über vier Jahren inzwischen aufgelöst haben.

Möglich ist aber auch, dass diese Waffen und Grundsubstanzen tatsächlich in dem von der Unscom angenommenen Umfang produziert beziehungsweise importiert wurden; dass Irak zumindest einen Teil dieser Waffen noch versteckt hält oder die Grundsubstanzen seit 1998 zur Entwicklung neuer B- oder C-Waffen benutzt hat. Auch die Möglichkeit, dass Bagdad B- oder C- Waffen inzwischen an andere Staaten oder Terroristen weitergegeben hat, wie in Washington zumindest inoffiziell vermutet wird, ist nicht mit Sicherheit auszuschließen. Bleibt abzuwarten, ob sich die zahlreichen Fragen der Unmovik an Bagdad selbst beim besten Willen der dortigen Führung überhaupt jemals befriedigend klären lassen.