: Der unterschätzte Denker
Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sind die Ikonen der Arbeiterbewegung. Gemeinhin gilt sie als die große Denkerin, er als Agitator, aber schwacher Theoretiker. Eine überkommene Einschätzung
von CHRISTIAN SEMLER
Dem zu Zeiten der Studentenbewegung allseits beliebten Slogan „Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten!“ schloss sich eine fast ebenso häufig skandierte Parole an. Sie lautete: „Und wer hatte Recht? Karl Liebknecht!“ Worin sollte er Recht gehabt haben? In seinem „Nein!“ zu den Kriegskrediten, im Bruch mit einer Partei, die seit der Zustimmung zu ebendiesen Krediten 1914 noch stets die in sie gesetzten Hoffnungen enttäuscht hatte.
Seit ihrer Ermordung im Januar 1919 waren Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu den Ikonen der deutschen revolutionären Arbeiterbewegng aufgestiegen. „Rosa und Karl“ – man redete stets von ihnen wie von anwesenden Freunden – überstanden die diversen ideologischen Purifizierungskampagnen in der KPD und später in der SED, die stets die Kluft zwischen den beiden und der sowjetischen Orthodoxie zum Mittelpunkt hatten. Noch in den Gedenkmärschen in Berlin/DDR zum Jahrestag ihrer Ermordung war die emotionale Beziehung zu den beiden Märtyrern spürbar. Die linksradikalen Studis in Westberlin teilten diese Haltung. Sie war umso stärker, als man in „Rosa und Karl“ den verzehrenden Aktivismus wiedererkannte, dem man sich selbst verschrieben hatte.
Bei der Verehrung von „Rosa und Karl“ gab es eine Arbeitsteilung zwischen beiden. Rosa galt als die große nonkonformistische Denkerin, Karl aber als nimmermüder Agitator und Organisator. Zur Festigung dieses Bildes hatte Rosa Luxemburg noch selbst beigetragen, wenn sie Karl Liebknecht als ewig gehetzten, Aktenstöße und Zeitungen schleppenden, von Versammlung zu Versammlung eilenden Aktivisten porträtierte. Noch Sebastian Haffner sprach von Karl Liebknecht als großem Einzelkämpfer, aber schwachem Politiker und Theoretiker.
Drei Gründe sprechen gegen die überkommene Einschätzung. Zum Ersten war Liebknecht einer der Avantgardisten, die den Zusammenhang von Imperialismus und Krieg nicht abstrakt behaupteten, sondern anhand der Politik der großen Rüstungskonzerne vor dem Ersten Weltkrieg konkret nachwiesen. Liebknecht durchstöberte Berge veröffentlichter Materialien, deckte auch – als Anwalt – geheime Verbindungen auf, brachte Bestechungsaffären ans Licht, nutzte nicht nur die Gerichte, sondern auch den Reichstag als Tribüne seiner Anklagen. Sein antimilitaristischer Kampf war zudem auf internationale Kooperation der Linken angelegt, was sich mit Blick auf den August 1914 als hellsichtig erwies. Liest man heute die Schriften zum Beispiel über die Krupp-Bestechungsaffäre von 1913, so wäre, was Methodik und Klarsicht anlangt, auch für die gegenwärtige Situation einiges zu lernen.
Zum Zweiten hatte Karl Liebknecht, der vorgeblich linke Sektierer, eine klare Vorstellung von der Bedeutung demokratischer Forderungen und Kämpfe. Seine Rolle bei der Massenbewegung von 1910 zur Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts blieb lange Zeit unterbelichtet, obwohl schon vor einer Generation die Historikerin Annelies Laschitza ihr eine ganze Studie gewidmet hat. Liebknecht sah die Möglichkeit von Koalitionen zur Demokratisierung Deutschlands. Und die Angst, die seit der Kampagne von 1910 den Machteliten in den Knochen steckte, war einer der Gründe, warum der Erste Weltkrieg angezettelt wurde.
Zum Dritten hatte Liebkecht, der Revolutionär, keinen Respekt vor den Übervätern Marx und Engels. Die Werttheorie schien ihm ein ungenügendes theoretisches Fundament. In seinem späten Manuskript „Studien über die Bewegungsgesetze der Gesellschaft“ entdecken wir Ansätze einer Theorie der Bedürfnisse und Leidenschaften, die seinen bedingungslosen Aktivismus fundamentierte.
Diese Arbeit wie auch andere späte Fragmente zeigen Liebknecht als einen Denker, der früh und vergeblich gegen den Geschichtsdeterminsmus innerhalb der marxistischen Bewegung anrannte, mithin gegen die Überzeugung, dass der Sozialismus sich quasi von selbst einstellen werde. Liebknecht betont die Wichtigkeit des individuellen Einsatzes, er steht hier dem Anarchismus näher, als es der Orthodoxie lieb sein konnte, weshalb die Herausgeber seiner Werke in der DDR lange, lange zögerten, solche Konterbande zwischen den weinroten Pappdeckeln der neun Liebknecht-Bände erscheinen zu lassen
Wir, die Neunmalklugen, täten gut daran, uns in diesem Winter der Kriegsvorbereitungen am Feuer von Liebknechts Leidenschaft zu wärmen.