: Angst vor Biermann
Ungeträumte Träume: Vom nächtlichen Auftritt eines eseligen Liedermachers
Zu den Unsitten unserer Zeit zählt zweifellos, dass Menschen, die in beliebigem Bekanntheitsgrad zueinander stehen, sich ihre Träume oder Albträume berichten. Speziell Frauen neigen zum Alb-Report und reichern die Erinnerung an blutrünstige Fantasien gern mit erzähllustiger Mimik an. Erst kürzlich musste ich meiner Geliebten jedwede Traumreportage untersagen, und mag der Traum noch so abstrus gewesen sein. Traumdeuterei ist die Wiederholung des Banalen. Symptomatisch für Menschen ohne Standpunkt.
Einer Bekannten, die sich als Traumdeuterin ausgibt, erzählte ich einst, ich hätte geträumt, dass Roland Koch nackt um eine Eiche galoppiert. Als er bemerkt, dass ihn jemand dabei beobachtet, grapscht er sich zwischen die Beine und singt die erste Strophe des Deutschlandliedes.
Meine Bekannte war ratlos, gelobte jedoch Fachliteratur zu konsultieren. Nach zwei Tagen – ich hatte den Spaß schon vergessen – rief sie an und bat mich, weitere Details zu offenbaren. Ich behauptete, dass auch Johannes B. Kerner in diesen Traum verwickelt sei. Er saß in der Eiche und versuchte das Wort „Erfurt“ zu buchstabieren. Da ihm dies nicht gelang, erzürnte sich Roland Koch so sehr, dass er Herrn Kerner in die USA abschob, wo dieser alsbald Präsident wurde und sich rächte, indem er Deutschland zum Atomwaffentestgebiet erklärte. Seit dieser Ergänzung hat sich die Traumdeuterin nicht mehr gemeldet.
Doch es gibt einen Traum, vor dem es mir graust, obwohl ich ihn nie geträumt habe: Es klingelt nachts an der Wohnungstür. Ich öffne sie. Draußen steht Wolf Biermann, aber das erkenne ich erst, nachdem er sich den Zutritt erschlichen hat. Er trägt nämlich eine Eselsmütze und sagt: „Ich bin von drüben, wir haben’s ooch nicht leicht gehabt.“ Irritiert entgegne ich: „Ich bin von unten und kann auch nichts dafür.“ Biermann hebt triumphierend den Finger: „Ich bin aber ein Freund von Günter Wallraff.“ Ich verneige mich. Derweil stürmt Biermann meine Wohnung. Ehe ich ihn in ein Gespräch über die Transzendenz von Bach-Kantaten verwickeln kann, zieht er die Gitarre aus dem Sack. Ich flehe ihn an, dies zu unterlassen. Da behauptet Biermann, mir eine Botschaft von Wallraff überbringen zu müssen. Schon prügelt er die Saiten durch. „Günters Lieblingslied …“, lügt er noch. Dann jault er los: „ Ich habe diese Nacht geweint / Viel knochentrockne Tränen / Und hab die Fäuste wild geballt / Geknirscht auch mit den Zähnen / Ich habe diese Nacht geträumt … Ich habe diese Nacht geglaubt / Die Sonne käm nie wieder / Und brächte nicht ans Tageslicht / All meine wahren Lieder.“ Selbst das affektierte Grinsen, mit dem er angeblich lustige Stellen fünf Sekunden vorher ankündigt, erspart er mir nicht. Nach zwei Liedern beschweren sich die Nachbarn, die Polizei rückt an, die Vermieterin schüttelt den Kopf, ich werde obdachlos. „Du, das habe ich nicht gewollt“, sagt Biermann fassungslos.
Ich weigere mich, dem Ausbleiben dieses Traumes eine Bedeutung beizumessen. Fragte ich eine Konfrontationstherapeutin, würde sie mir empfehlen, von einem Biermann-Konzert zu träumen. Dies werde ich nicht tun. Stattdessen leugne ich nach Einbruch der Dunkelheit, anwesend zu sein, und vereinbare mit Besuchern ausgeklügelte Klingelzeichen. ANDRÉ PARIS