: Einmal mit den Schnaken fliegen
Die Feldforscherin und Künstlerin Lili Fischer hat das ehrwürdige Treppenhaus der Hamburger Kunsthalle mit halb ekligen, halb poetischen Riesenschnaken bestückt. Die sitzen sogar auf den Gemälden. Zu Schaden kommt dabei aber niemand
Schnaken sind so ziemlich das Letzte, womit man etwas zu tun haben möchte. Das gilt auch für die Kunst, und die hat sich der Beschäftigung mit dem unbeliebten Insekt bislang auch geflissentlich enthalten: Nicht einmal auf den Stillleben vergangener Jahrhunderte erscheint das Tier. Selbst Käfer und unansehnliche Raupen waren bildwürdiger als – nun, eben Schnaken.
Lili Fischer, eine Performance-Künstlerin, die ihre Objekte seit langem in der Natur findet, sieht das anders: Nicht nur, dass die Documenta 8-Teilnehmerin im Jahr 2005 als Riesenmotte durch die Bremer Kunsthalle wedelte und sich überdies für Hexen, Kräuter und Scheusalsforschung interessiert. Nein, sie hat sich jetzt auch des Altbau-Treppenhauses der Hamburger Kunsthalle bemächtigt. Das ist, muss man wissen, ein überaus gediegener Treppenaufgang aus dem Jahr 1869, dessen Wände Jahreszeiten- und Lebensalter-Gemälde aus der gleichen Ära zieren.
In dieses Ambiente hat Lili Fischer eine Prozession aus Schnaken gesetzt. Beziehungsweise – gehängt: engelgleich flügeln die mehr als drei Meter breiten Getüme über den Besuchern die Treppe hinauf, so dass man glatt mitfliegen möchte. Das hat Lili Fischer vorausgesehen und den Schnaken-Simulator dazuerfunden, der jetzt auf einem kleinen Podest steht: ein Schnakenkostüm mit Flügeln, die man auf den Rücken schnallen kann, um ein bisschen zu wedeln. Das hat die Künstlerin bei der Ausstellungseröffnung auch mit Genuss getan; der hergelaufene Besucher darf das natürlich nicht. Aber es freut ihn schon, sich derlei überhaupt vorzustellen.
Nun aber die „echten“ Schnaken: Aus Japanpapier hat Lili Fischer sie gefertigt. Ein angesichts der Vergänglichkeit des unscheinbaren Insekts konsequenter Schritt. Andererseits löst das feine Material den Ekel auf, den mensch vor den „Lästling“ Schnake empfindet: zum mysteriösen, fast feenhaften Wesen wird hier, was man normalerweise brutal erschlägt oder mitleidlos an der Neonröhre verschmoren lässt. Im ersten Stock der Kunsthalle – dem Ziel des Schnakenflugs gewissermaßen – wird man allerdings schroff in die Realität zurückgerissen: Hier haben sich die riesigen Tiere nämlich auf Bilder und Säulen gesetzt, wie es eben der Schnaken Art ist. Aus ist es da mit der Poesie. Der Moder der Vergänglichkeit ist wieder da, und man fragt sich, ob hier Vergangenheit oder Zukunft evoziert wird, ist die Schnake als solche doch um Jahrmillionen älter als wir und wird uns wohl überleben.
Außerdem: Wie intelligent sind die Tiere eigentlich – sei es als Gruppe, sei es als Individuum; verfolgen sie einen geheimen, feindseligen Plan? Kurz blitzt der Science-Fiction-Topos der Insekten-Invasion auf, bevor Lili Fischer einen zurück zieht in ihre Empirie: Sorgsam hat sie nämlich Schnaken in jeder Lebenslage gezeichnet, als habe sie eine Ahnenreihe erstellen wollen. Auch scheint sie bereit, eine geheime Symbolik zu (er)finden: „6 Beine, 6 Planeten, 6 Schöpfungstage“ hat die Künstlerin zum Beispiel notiert. Eine kühne Reihe, aber wer weiß: Vielleicht werden, sollten wir einmal von Insekten vereinnahmt werden, dereinst andere Regeln gelten.
Dann aber wieder: eine merkwürdig akribische Zärtlichkeit, die aus den federleichten Zeichnungen spricht, auf denen Lili Fischer exakt die Beinverhakelung toter Schnaken illustriert oder eins der Insekten als federleichte Tänzerin abbildet. Ist die Schnake das Schriftzeichen eines Gottes? Lässt sich aus ihrem Flügelschlag Zukunft herauslesen wie in der Antike aus dem Flug der Vögel?
Lili Fischer spielt gern mit solchen Assoziationen, sie empfindet Natur als beseelt und sieht sich da durchaus in der Tradition der Romantiker. So ganz überschreitet sie den Grat zwischen Naturwissenschaft und Kunst allerdings nie. Denn sie nennt sich immer noch „Feldforscherin“, hegt einen naturwissenschaftlichen Anspruch und will in ihren Zeichnungen und Analysen möglichst exakt sein.
Infolgedessen gelingt es Lili Fischer tatsächlich, ein nachhaltiges Interesse an einem Insekt zu wecken, das der Mensch ähnlich respektlos behandelt wie die 2005 in Bremen gewürdigten Motten. Ob Fischer sich mit der Hamburger Ausstellung nun selbst zitiert – es mag sein. Sicher aber ist, dass dies eine – gemessen am Konservatismus der Kunsthalle – mutige Intervention ist. Wobei es natürlich noch kühner gewesen wäre, die Schnaken auf einem echten Runge herumkriechen zu lassen und nicht auf einem eher unbedeutenden Valentin Ruths. Aber das wäre wohl mit den Alarmanlagen nicht kompatibel gewesen: mit denen der Kunsthalle und mit denen in den Köpfen der Besucher, die Hochkultur wohl immer noch von respektloser Intervention unterschieden wissen wollen.PETRA SCHELLEN
„Testflug der Schnaken“: bis 16. 11., Hamburger Kunsthalle