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Archiv-Artikel

Wir fahren mit dem Zug

Der Ganges fließt durch Budapest: Imre Kertész und Péter Esterházy trugen im ausverkauften Berliner Ensemble zwei Geschichten vor. Es ging darin um Orts- und Luftveränderung und um Zollbeamte, die unselige Erinnerungen wachriefen

„Ich sah ihn, seine lange gebeugte Gestalt, ich sah seine Sätze“

von ANNE KRAUME

Pressekarten gebe es leider keine mehr, sagt die Dame vom Berliner Ensemble, nein, und gewöhnliche Karten auch nicht. Wir könnten unser Glück höchstens noch an der Abendkasse versuchen, vielleicht, wenn wir Zeit hätten und Geduld. Abends, zwei Stunden vor Beginn der Lesung von Imre Kertész und Péter Esterházy, haben sich in der Halle des BE hässliche Pfützen aus geschmolzenem Schnee und Sand gebildet. Die Menschen stehen in einer kleinen Traube vor der geschlossenen Abendkasse und leihen sich gegenseitig ihre mitgebrachten Kertész-Bücher aus. Eine Liste kursiert, auf der man sich bitte eintragen möge: Diejenigen, die zuerst da gewesen sind, legen Wert darauf, ihren Vorsprung auch bei zunehmend unübersichtlicher Lage vor der Kasse zu verteidigen. Draußen vor der Tür sammeln sich allmählich frostklamme Menschen, die der feuchten Kälte Schilder mit der Aufschrift „Suche 1 Karte“ entgegenhalten. Schließlich wird die Abendkasse geöffnet, die Menge schiebt gegen das Häuschen, Hände mit Portemonnaies recken sich empor und nach und nach spuckt der Haufen wenige glückliche Kartenkäufer wieder aus.

Der Nobelpreisträger Imre Kertész erzählt die Geschichte einer „Orts- und Luftveränderung“, und nach ihm erzählt auch sein Landsmann und Kollege Péter Esterházy die Geschichte einer „Orts- und Luftveränderung“. „Eine Geschichte, zwei Geschichten“ heißt der Abend im BE, und so heißt auch das gemeinsame Buch der beiden ungarischen Schriftsteller. Kertész reist von Budapest nach Wien, geschäftlich, obwohl die Orts- und Luft-veränderung natürlich auch der Kreativität zugute kommen wird, wie er hofft. Gemeinsam mit dem Erzähler treten wir, die wir im Parkett und auf den Rängen des BE sitzen, die Reise an und erstehen wie er eine Platzkarte, denn auch wir wollen sorgenfrei reisen. Kertész’ Geschichte trägt den Titel „Protokoll“ und ist genau dies – und zudem eine Novelle, nämlich eine „sich ereignete, unerhörte Begebenheit“, wie Goethe es für diese Gattung gefordert hat.

Protokolliert wird, und das im entsprechenden Stil, das Zusammentreffen des Reisenden mit einem ungarischen Zöllner, der ihm auf der Reise im Jahr 1991 zuerst seine nicht vorschriftsmäßig deklarierte Valuta abnimmt (oder die Devisen, den Unterschied, sagt der Erzähler, werde er wohl nie begreifen) und ihn dann zwingt, den Zug noch in Ungarn zu verlassen: Die „Illusion von persönlicher Freiheit“ muss eine Illusion bleiben. Unser Reisender verliest sein Protokoll sachlich, ruhig, mit fast mit amtlicher Distanz. Dennoch klingt uns sein ungarischer Akzent mit dem leicht gerollten „r“ und den getrennt voneinander ausgesprochenen Diphthongen schon nach wenigen Sätzen so vertraut wie der eines langjährigen Begleiters unserer Reisen.

Kertész’ Schilderung seiner gescheiterten Grenzüberschreitung ist nicht ohne Komik, aber zumindest diejenigen Mitreisenden an diesem Abend, die oft und laut lachen, scheinen den bitteren Beigeschmack in seinem Humor nicht zu spüren. Denn der Reisende findet „von der Zöllnergeschichte zu einer Interpretation seines Lebens“, wie es sein Kollege Péter Esterházy im zweiten Teil des Abends beschreiben wird: „Hinter der Frage dieses Zollbeamten vernahmen meine Ohren das Dröhnen von Stiefeln, das Schmettern von Kampfesliedern und das Schrillen von Türklingeln im Morgengrauen, und vor meinen Augen erschienen Gitterfenster und Stacheldrahtzäune. Es war nicht ich, der auf diese Frage geantwortet hat, sondern ein seit Jahrzehnten gepeinigter, abge-richteter Bürger“ – einer, der wie Imre Kertész zuerst unter dem Nationalsozialismus, dann unter der sozialistischen Diktatur zu leiden hatte.

Nach der Pause bricht Péter Esterházy ebenso wie Kertész vom Budapester Ostbahnhof zu seiner Reise auf, und auch er kommt sich dort am Bahnhof vor, als wäre er „plötzlich an den Ufern des Ganges, an einem hinduistischen Feiertag“. Seine Geschichte „Literatur und Leben“ flicht zunächst unauffällig, später immer deutlicher Sätze aus Kertész’ Protokoll ein.

Bei Esterházy gibt es wie zuvor bei Kertész „keine Liebe“, die Plätze neben ihnen im Zug bleiben frei, und beide sind froh darüber. Auch Esterházy wird in seiner Lektüre vom Zöllner gestört, auch ihn fragt man beinahe, wie viel Valuta (oder Devisen) er ausführe. Vor seinem inneren Auge taucht nun nicht nur der Protokolltext von Imre Kertész auf, sondern gleich dieser selbst: „Ich sah ihn, seine lange gebeugte Gestalt, ich sah seine Sätze, jeden für sich, die langen, gebeugten, schweren Sätze“; und in der folgenden Passage schneidet Esterházy die beiden Texte gegeneinander, den eigenen und den von Kertész; er verwebt sie, bestätigt und zieht in Zweifel, was der Text des Kollegen angedeutet hat, und schreibt doch seine ganz eigene Geschichte. Eine über Leben und Literatur, die trotz aller Verbindungen ganz anders endet als die von Kertész: „Ich fahre mit dem Zug. Ich bin nicht tot.“ schreibt Esterházy zum Schluss. Und bekommt beim Verbeugen von Imre Kertész einen Kuss dafür.