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Archiv-Artikel

Wüten im Familiencamp

Spielt sich alles nur in Hamlets Kopf ab? Am Stuttgarter Schauspiel hat Ernst Stötzner die deutschsprachige Erstaufführung von Bernard-Marie Koltès „Hamlet. Der Tag der Morde“ inszeniert

Die Kraft des Textes von Koltès fegt wie ein heilsamer Schock durch die Fadheit der modernen Kompromissgesellschaft

VON CLAUDIA GASS

Das böse Spiel um Rache, Mord und Macht beginnt fast poetisch: Auf einem frei im Raum stehenden Steg, der einem herausgebrochenen, keine Ufer mehr verbindenden Brückenteil gleicht, sitzen die Protagonisten Hamlet, Ophelia, Gertrud und Claudius und schütteln mit Wasser und Sand gefüllte Flaschen, so dass es klingt, als würde das Meer sanft rauschen. Auch die Sprache atmet Poesie; allein der Inhalt der Worte, die Hamlet respektive der Schauspieler Christoph Gawenda spricht, lässt in Abgründe blicken. An einem Ort der Verzweiflung wähnt der Dänenprinz sich, befürchtet den Absturz seiner Vernunft in den Wahnsinn.

Ernst Stötzner legt in seiner Inszenierung von „Hamlet. Der Tag der Morde“ am Stuttgarter Schauspiel dergestalt die Situation des Theaterspielens immer wieder offen und ist damit dem Autor Bernard-Marie Koltès nahe. Dieser zeigt in seiner Adaption von Shakespeares Drama die Titelfigur nicht mehr nur als einen, der eine Rolle spielt, um andere zu täuschen und so die Wahrheit über den Mord an seinem Vater herauszufinden, sondern als Schauspieler des eigenen Lebens „für nichts, für eine unwahre Geschichte“, wie es im Stück heißt.

Das ist in unserer Mediengesellschaft, in der die permanente Selbstinszenierung allgegenwärtig ist, ein zeitgemäßer Ansatz. Zu untersuchen, inwiefern die Figur des berühmten Shakespeare-Helden auch ein Gradmesser sein kann für unsere Welt heute, hat das Staatsschauspiel sich für diese Spielzeit unter dem Motto „Generation Hamlet“ vorgenommen. Das frühe Stück des französischen Autors, zur Spielzeiteröffnung die erste direkte Auseinandersetzung mit einem Hamlet-Text, wurde erst vor kurzer Zeit wieder ausgegraben und ist in Stuttgart als deutschsprachige Erstaufführung zu sehen. Koltès konzentriert in seiner Hamlet-Paraphrase die Geschichte auf ein Familiendrama und den Aufstand der jungen Generation gegen die Eltern. Sein Hamlet fordert von seinem Stiefvater Claudius, dem Mörder seines Vaters, ganz unverblümt und massiv seinen Anspruch auf die Thronfolge ein und verliert darüber den Nimbus des zwar mit den falschen Mitteln kämpfenden, aber dennoch auf der richtigen Seite stehenden Guten. Manchmal verschieben sich gar die Kräfteverhältnisse, sodass Hamlet und die so gar nicht nur als hilfloses Opfer gezeichnete Ophelia (der Nadja Stübiger einiges an Stärke mitgibt) die Oberhand gewinnen über die zaudernde Elterngeneration. Auch diese Auseinandersetzung zwischen den Generationen holt die Hamlet-Geschichte in unsere Zeit. Allein der Furor, das wütende Aufbegehren, mit dem Koltès seinen Hamlet ausstattet, mutet uns heutzutage, wo man auf Ausgleich setzt, fremdartig an. Die Kraft des Textes fegt da wie ein heilsamer, aufrüttelnder Schock durch die Fadheit und Konturenlosigkeit der modernen Kompromissgesellschaft.

Mit der verhaltenen Poesie des Auftakts ist es in Ernst Stötzners Inszenierung bald vorbei. Er gestaltet auf der beeindruckenden Bühne von Petra Korink – einer reduzierten Ruinenlandschaft aus Steinfeldern, Steinquadern und einem Torbogen – recht drastische Szenen. Stötzner, der selbst auch Schauspieler ist, mutet seinen überzeugenden Akteuren einiges zu. Sie müssen den Kopf in Sand- und Steinhaufen stecken, werden – im Fall von Ophelia – mit Farbe bemalt oder staksen – wie Gertrud und Claudius – eitel und gekünstelt wie seltsame Vögel daher. Teils entwickelt die Aufführung durch diese bildstarke Stilisierung sehr viel Kraft und regt zudem die Fantasie an, die eben nicht eins zu eins illustrierenden Bilder zu ergründen.

Der Regisseur gibt dem Publikum jedoch gar zu viele Rätsel auf und legt zu viele Deutungsspuren. Ist Ophelia etwa nur die Projektion des weiblichen Persönlichkeitsanteils von Hamlet, wie ein Kleidertausch zwischen den beiden nahelegt? Oder spielt sich alles nur in Hamlets Kopf ab? Darauf deutet wiederum ein mysteriös bleibendes Herumwerkeln Hamlets mit Tonbändern und Filmprojektionen hin. In der Übermenge der Rätsel verliert man gelegentlich die Deutungslust, aber nimmt auch genug an starken Eindrücken mit, die zur weiteren Auseinandersetzung anregen.