Auf Biegen und Brechen

von ULRIKE WINKELMANN

Für so etwas hat der Kanzler Gespür: „Es geht um ganz viel Geld und ganz viel Macht“, sagte Gerhard Schröder vergangene Woche zur SPD-Fraktion. Er sprach von der Rolle der Interessengruppen und Standesorganisationen bei den anstehenden Reformen im Gesundheitssystem.

Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) bekommt Druck vom Kanzleramt: Noch vor Ostern sollen ihre Vorschläge, wie den gebeutelten Krankenkassen Ausgaben erspart werden können, auf den Gesetzgebungsweg geschickt werden. Die Rürup-Kommission zum Umbau der Sozialsysteme soll schon bis zum Sommer ein Konzept entwickeln, wie man den Kassen mehr Einnahmen verschaffen könnte. Wie und ob das alles zusammenpasst, steht bislang dahin. Klar ist aber eines: Es wird zu einer Umverteilung von Geld und Macht zwischen den Interessengruppen kommen. Und es sieht alles danach aus, als wenn die Krankenkassen gestärkt und die Ärzte geschwächt würden.

Keine Macht der KV

Genauer gesagt: Es sind die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVs), die entmachtet werden sollen. Die 23 Körperschaften, in denen die 115.000 niedergelassenen Vertragsärzte in Deutschland organisiert sind, sowie ihr Dachverband, die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), gelten als die großen Blockierer im System. „Dinosaurier“ nennt sie der Gesundheitsexperte der Verbraucherzentralen, Thomas Isenberg. „Warum gibt es eigentlich Kassenärztliche Vereinigungen?“, fragte kess Niedersachsens Landeschef Sigmar Gabriel (SPD) kürzlich. Mit der Parole „Ärztekartelle knacken“ machte auch die Bundes-SPD Wahlkampf. Sie meinte die KVs.

Die KVs sind dafür zuständig, dass das Geld der Kassen unter den Ärzten verteilt wird. Sie verhandeln über sämtliche kassenärztliche Leistungen – Kassenärzte sind Pflichtmitglieder. Dafür gewährleisten die KVs eine flächendeckende Versorgung: Sie haben den so genannten Sicherstellungsauftrag. Ihre Monopolstellung haben sie seit 1931. Per Notverordnung wurden sie gegründet, um zwischen Ärzten und Kassen nach Jahren von Zuständigkeitskämpfen und Ärztestreiks Frieden zu stiften.

Seither kontrollieren die KVs – und nicht die Kassen – das Tun und Lassen der Ärzte. Hierbei lassen sie sich nicht in die Unterlagen gucken – oder jedenfalls nur, wenn es sein muss. Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft den Kassenärzten auf den Kittel rückte, zählte kurz vor Weihnachten der Spiegel auf: In Rheinland-Pfalz hatten 100 Mediziner Abrechnungen manipuliert, die KV will nichts bemerkt haben. Im Ostwestfälischen hatten Gynäkologen Frauen reihenweise und ohne besonderen Grund auf Syphilis untersucht, die KV Westfalen-Lippe billigte es. Gleichzeitig meldeten andere Zeitungen, dass KV-Vorständler in verschiedenen Teilen der Republik sich ausgesprochen großzügige Honorarerhöhungen genehmigt hatten.

Diese Berichte fielen ungünstigerweise mit der Ankündigung der KBV zusammen, gegen Ulla Schmidts Nullrunde mit Praxisschließungen zu protestieren. Die Kassenärzte müssen dieses Jahr auf eine Budgeterhöhung von rund 150 Euro im Monat verzichten: Das ist Teil des Notprogramms, das Schmidt zur vorläufigen Rettung der Krankenkassen aufgelegt hat. KBV-Sprecher Roland Stahl sah sich angesichts der schwierigen imagepolitischen Lage zu einer Verteidigungsrede genötigt: „Mit dem Argument, wir seien alle Betrüger, wird immer wieder versucht, uns mundtot zu machen.“ „Skandalös“ sei es, dass pauschale Betrugsvorwürfe stets dann erhoben würden, wenn strukturelle Änderungen im Gesundheitswesen anstünden, sagte Stahl.

Umbau der Versorgung

Davon, dass die Kassenärzte sich je „mundtot“ machen ließen, ist allerdings nicht auszugehen. Keine Ärzteorganisation ist so laut und nutzt via Wartezimmer und Praxen ihren Einfluss auf die Patienten so ausführlich wie die KBV. Manfred Richter-Reichhelm, Chef der KBV, hält keine Rede ohne die Behauptung, dass nur Ärzte für das Wohl der Patienten einstünden. Als Körperschaft öffentlichen Rechts dürften sich KVs und KBV eigentlich nicht parteipolitisch betätigen. Doch schaltete die KBV im Bundestagswahlkampf Anti-Rot-Grün-Anzeigen. Selbstbewusst mischt sie sich seit je in die Gesundheitsrefomdebatte mit Vorschlägen ein, wie die Misere der Krankenkassen zu beheben sei und welche Zusatzleistungen vom Patienten gefordert werden könnten.

Doch es ist weder der Verdacht, dass viele Ärztefunktionäre die Gesundheitsversorgung als eine Art Selbstbedienungsladen betrachten, noch die Wut über ihr politisches Engagement, weshalb die Gesundheitsreformer die Macht der KVs beschneiden wollen. Es geht vielmehr darum, ob das Modell „Arzt als Unternehmer“, das die KVs verteidigen, noch zeitgemäß ist. Die Gesundheitsstrategen um Ulla Schmidt wollen die ambulante Versorgung umbauen. In Zukunft soll nicht mehr der einzelne Arzt in seiner Praxis Herr über Patienten und Gerätschaften sein, Behandlung nach Gutdünken und eigenem Auskommen gestalten und sich um den Fortschritt von Welt und Medizin nicht scheren müssen. Der Kassenarzt oder die Kassenärztin der Zukunft soll sich in Ärztenetzen zusammentun – der Ex-DDR-Bevölkerung ist für so etwas noch der Name „Poliklinik“ vertraut. Hier teilen sich Fachärzte unterschiedlicher Richtungen Geräte und Infrastruktur. Ihre Patienten bekommen sie von einem Hausarzt geschickt, den die Kranken als Erstes ansteuern müssen, um sich dann überweisen zu lassen.

Die Ärztenetze konkurrieren untereinander darum, mit den Krankenkassen Verträge zu guten Konditionen abzuschließen. Sie werden von den Kassen gezwungen, sich an Behandlungsleitlinien zu halten und sich regelmäßig fortzubilden. Wer bestimmte Leistungen nicht erbringt oder auf Dauer keine Heilungserfolge vorweisen kann, dem wird halt der Vertrag gekündigt. Soll er doch sehen, welche Kasse ihn noch bezahlt. So ungefähr die Vision.

„Die Ärzte müssen wieder wissen, dass es etwas Besonderes ist, mit der gesetzlichen Krankenversicherung einen Vertrag abschließen zu dürfen“, droht Ulla Schmidt unmissverständlich. Der Kölner Gesundheitsökonom Karl Lauterbach, auf dessen Ideen und Berechnungen ein Gutteil der Schmidt’schen Pläne beruhen, verspricht einen „Quantensprung“ in der Qualität der Behandlung, wenn denn die Kassen sich erst aussuchen könnten, mit welchen Ärzten sie zusammenarbeiten wollen. Lauterbach verficht, schon durch eine bessere ambulante Versorgung könnte so viel Geld gespart werden, dass weitergehende Reformen, die das System der solidarischen Gesundheitsversorgung in Frage stellten, nicht nötig sind.

Eine Reihe von Maßnahmen, den Kassenärzten neue Regeln aufzuzwingen, wird also derzeit im Gesundheitsministerium und in den Regierungsparteien zur Veröffentlichung zurechtgeschnitzt: Da die KVs den Hausarzt bei ihrer Geldverteilung systematisch diskriminieren, soll er gesetzlich aufgewertet werden. Ihm ist die herausragende Rolle als „Lotse im Ärztedschungel“ zugedacht. Die Zulassung für Kassenärzte soll befristet und an Fortbildungen geknüpft werden. Ein Institut für Qualität in der Medizin soll dafür sorgen, dass und wie die ärztliche Behandlung nach medizinischen Standards ausgerichtet werden kann. Übrigens heißt es, dass hier der Chefsessel schon für Karl Lauterbach reserviert sei.

Mehr Macht für die Kassen

Zwei Maßnahmen sind es jedoch, die das Machtgefüge zwischen Ärzten und Kassen dauerhaft verschieben könnten: Die Möglichkeit für die Kassen, außer mit den KVs auch mit Einzelärzten Verträge abzuschließen, sowie die Möglichkeit, zu fusionieren. Sollte die Regierung das durchsetzen, würde sie im Effekt den Kassen die Verantwortung für eine flächendeckende ärztliche Versorgung übertragen. Diese hätten dann den Sicherstellungsauftrag. Denn die KVs hätten ja keinen Überblick mehr, welche Ärzte welche Leistungen anbieten. Weil dann aber nicht mehr jeder Arzt mit jeder Kasse zusammenarbeitet, werden die Versicherten in Zukunft nur noch zu Ärzten gehen können, die auch von ihrer Kasse bezahlt werden. Ob sie willkommen sind, werden sie dann dem Türschild entnehmen: „Hier bitte nur Barmer, BKK Firlefanz, DAK …“ Da ja aber die Kassen verpflichtet sind, ein dichtes Ärztenetz und einen entsprechenden Verwaltungsapparat zu unterhalten, werden sie fusionieren müssen. Vielleicht wird von den 350 Kassen nur noch eine Hand voll Großkassen übrig bleiben.

Der Kieler Gesundheitssystemforscher Fritz Beske findet für die Entmachtung der KVs dramatische Worte: „Das ist der Anfang vom Ende“, sagt er. Wenn die Ärzte untereinander um die Kassenverträge konkurrieren müssen und die Kassen untereinander um die Versicherten, „steht am Ende ein rein marktwirtschaftliches System ohne Versorgungs- und Planungssicherheit. Vorbild dafür sind die USA.“ Thomas Isenberg vom Verbraucherzentralen-Bundesverband glaubt, dass solch eine apokalyptische Einschätzung nicht gerechtfertigt ist. „Die freie Arztwahl ist nicht zwangsläufig ein hohes Gut“, meint Isenberg. Das Gesundheitssystem der Zukunft müsse den Versicherten „Korridore“ öffnen, durch die sie zu Ärzten geschleust werden, deren Arbeit kontrolliert wird. Und wer kontrolliert die Krankenkassen? Sie sich selbst, meint Isenberg – „über den Wettbewerb“. Außerdem wäre das doch auch „eine schöne Aufgabe für die Kassenärztlichen Vereinigungen“.