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Archiv-Artikel

Historische Entscheidung mit Folgen für das Justizwesen

Die Begnadigung und die Ankündigung des designierten Gouverneurs von Maryland, das Moratorium wieder aufzuheben, zeigen, wie gespalten die USA bei der Todesstrafe sind

WASHINGTON taz ■ Die Begnadigung aller zum Tode verurteilten Häftlinge in Illinois ist von Gegnern der Todesstrafe euphorisch begrüßt worden. „Dies bedeutet einen Wendepunkt in der Debatte über die Todesstrafe in den USA“, sagte Steven Hawkins von der Nationalen Vereinigung zur Abschaffung der Todesstrafe. Und selbst die eher konservative Washington Post kommentiert: „Illinois ist nun ein besserer Ort und ein Modell, wie sich ein Bundesstaat dem Problem der Todesstrafe annehmen kann.“

Gegner von Giftspritze und elektrischem Stuhl hoffen nun, dass die Begnadigung eine Signalwirkung auch auf andere US-Bundesstaaten haben wird. Die Ankündigung des neu gewählten republikanischen Gouverneurs von Maryland, das dort momentan geltende Moratorium wieder aufzuheben, bedeutet vorerst jedoch einen klaren Rückschlag. Andererseits wird in zahlreichen anderen Staaten über eine Aussetzung der Hinrichtungen debattiert.

„Ich weiß nicht, ob die Entscheidung ein Präzedenzfall für Massenbegnadigungen auch in anderen Bundesstaaten sein wird. In jedem Fall ist es eine historische Entscheidung, die sicher nicht ohne Auswirkungen bleiben wird“, meint der Jurist Franklin Zimring von der University of California in Berkeley.

Rechtsexperten sind der Ansicht, dass die strukturellen Probleme im Justizwesen in Illinois keinen Einzelfall darstellen. Auch in anderen Bundesstaaten mit Todesstrafe muss das System der Strafverfolgung als fehlerhaft betrachtet werden. So wie es gegenwärtig verfasst ist, kann nirgendwo garantiert werden, dass niemand unschuldig zum Tode verurteilt wird. „Unser Justizsystem leidet unter unzureichender und ungenauer Beweisführung, Fehlverhalten der Polizei und Rassismus“, sagt Stephen Bright vom Center for Human Rights in Atlanta. Entweder könne man faire Gerichtsverfahren und Urteilsfindungen sicherstellen, oder aber die Todesstrafe gehöre abgeschafft.

Trotz dieser Erkenntnis und der sich häufenden Justizirrtümer sieht sich Gouverneur George Ryan landesweit massivem Protest ausgesetzt. Richter werfen ihm vor, das Justizwesen zu untergraben und selbstherrlich gehandelt zu haben. Selbst sein Nachfolger im Amt, der Demokrat Rod Blagojevich, hält Ryans Schritt für einen „schweren Fehler“. Er und das Beispiel Maryland zeigen, wie gespalten das Land in der Frage der Todesstrafe ist.

Doch noch unterschiedlicher sind die Reaktionen der Betroffenen. Während die Angehörigen der begnadigten Todeskandidaten in Freudentränen ausbrachen, konnten die Verwandten von Opfern kein Verständnis für die Entscheidung aufbringen. Auf ihrer Seite herrschen Wut und Bitterkeit. Tod muss in ihren Augen immer noch mit Tod gesühnt werden – eine Einstellung, die so irrational ist wie der Glaube an mehr Sicherheit durch Waffenbesitz, von der Mehrheit der Amerikaner aber geteilt wird. Zwei Drittel der US-Bevölkerung sehen nach Meinungsumfragen in der Todesstrafe immer noch eine gerechte Form der Bestrafung. MICHAEL STRECK