: Marlene lässt es knallen – kurz und trocken
Am schwarzen Tag der Deutschen sorgt die Heidelbergerin in Melbourne für eine Sensation von historischem Ausmaß
MELBOURNE taz ■ Eigentlich war der erste Tag der Australian Open 2003 schon fast zu Ende. Die Deutschen zählten Niederlagen, mit zunehmendem Verdruss – bis zu diesem Zeitpunkt sechs in sieben Spielen –, in der internationalen Abteilung wurden Siege der Favoriten abgehakt, und es sah nicht danach aus, als sei der Nachwelt noch Bedeutendes zu überliefern. Dann erschienen Jennifer Capriati, Siegerin der Jahre 2001 und 2002, und Marlene Weingärtner in der Rod Laver Arena, es knallte ein paar Mal kurz und trocken, und nichts stimmte mehr. Die Titelverteidigerin verlor 6:2, 6:7, 4:6, Marlene Weingärtner feierte den größten Erfolg ihrer Karriere, und das Wort „eigentlich“ landete dort, wohin es gehört. Im Papierkorb.
Dass Jennifer Capriati nicht in besonders guter Verfassung sei, war schon seit Tagen zu hören. Die Amerikanerin hatte sich nach dem Ende der vergangenen Saison einer Augenoperation unterzogen, um ihr eingeschränktes Blickfeld korrigieren zu lassen, sie hatte in der Pause danach ein paar Pfund zugenommen, und sie wusste selbst, wie viel ihr fehlte im Vergleich zur Form des vergangenen Jahres. Nach dem Spiel sagte sie, dass es vielleicht besser gewesen wäre, angesichts der fehlenden Vorbereitungszeit nicht nach Melbourne zu kommen, aber sie sei das Risiko nun mal eingegangen und sie sei zufrieden, sich der Herausforderung gestellt zu haben. Eine Einstellung, die zur Niederlage von historischer Dimension führte: Noch nie in der Geschichte der Australian Open hat die Titelverteidigerin in der ersten Runde verloren.
Aber Risiko ist auch für Marlene Weingärtner, 22, genau das richtige Stichwort. Die war ein wenig nervös zu Beginn, weil sie bei einem großen Turnier noch nie auf dem Centre Court gespielt hatte, doch nachdem sie sich daran gewöhnt hatte, wurde sie sicherer und mutiger – und schoss aus allen Rohren. Capriati war nur noch unterwegs, und das Publikum in der Rod Laver Arena staunte nicht schlecht.
Vor einem Jahr hatte Weingärtner in Melbourne erst in der vierten Runde gegen die Französin Amelie Mauresmo verloren; es war der größte Erfolg ihrer Karriere bis dahin, doch sie bedauerte hinterher, zum Ende des Spiels nicht mehr mutig genug gewesen zu sein. Dass sie nach diesem Erfolg immer wieder gesundheitliche Probleme hatte, dass sie danach während des ganzen Jahres nur noch insgesamt sechs Spiele gewann und dass sie in der Weltrangliste von Platz 36 schließlich auf 98 zurückfiel, ist ein anderer kurioser Aspekt der ganzen Geschichte.
Als es diesmal wieder ernst wurde, setzte sie die Erkenntnisse aus dem Spiel gegen Mauresmo in die Tat um, blieb bis zum Schluss standhaft und ließ sich auch nicht von sechs vergebenen Breakchancen im dritten Satz aus dem Konzept bringen. Auf diesen Mut und die Standfestigkeit war sie hinterher vor allem stolz. Sie genoss das Glück und sagte: „Jennifer hat hier zwei Jahre lang kein Spiel verloren – dass ich jetzt die Erste bin, die sie besiegt hat, ist doch toll.“
So kam es, dass am Ende des Tages kein Mensch mehr über eine Serie von Niederlagen deutscher Tennisspieler sprach und dass stattdessen ein paar alte Kamellen vom Staube befreit wurden. Nun ist es wieder eine Notiz wert, dass Marlene Weingärtner zehn Jahre lang in Leimen in Boris Beckers Elternhaus gelebt und in dessen Jugendzimmer geschlafen hat, dass sie mal vorübergehend einen Monat lang vom berüchtigten Tennisvater Jim Pierce trainiert wurde und dass sie vor vielen Jahren in einem Trainingsspielchen mal gegen Serena Williams gewonnen hat. Wenn sie das in knapp zwei Wochen wieder täte, wäre ihr noch mehr Aufmerksamkeit sicher. Es würde sich dann um das Finale der Australian Open 2003 handeln. DORIS HENKEL