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Archiv-Artikel

Imperiale Zärtlichkeit und Empathie

Fotografie muss in Sequenzen gedacht werden. Jedes gute Bild entsteht als Teil einer Sequenz. Das ist das Credo von Stefan Moses. Das Münchener Stadtmuseum hat eine Retrospektive ausgerichtet und zeigt den Fotografen als großen Künstler

von STEFAN KOLDEHOFF

Den „entscheidenden Moment“ gebe es nicht, sagt Stefan Moses. Jener magische Augenblick, in dem allein angeblich ein gutes Foto entstehen kann, sei eine Erfindung der Fotografiegeschichte, ein angeblicher Beweis für den romantischen Mythos vom genialischen Impetus, ohne den selbst das reproduktive Medium Fotografie nicht auskommen darf: „Tatsächlich“, sagt Moses und nippt an seinem Grapefruitsaft, „muss man in Sequenzen denken. Jedes gute Bild entsteht als Teil einer Sequenz. Der Fotograf wählt es als das seiner Meinung nach beste aus. Der Betrachter würde es aber überhaupt nicht merken, wenn er ihm statt des einen ein ganz anderes Bild aus der Serie zeigte. Er kennt ja nur das eine.“ Und dann steht man plötzlich in der großen Stefan-Moses-Retrospektive im zweiten Stockwerk des Münchener Stadtmuseums vor dessen berühmtem Doppelporträt von Ernst Bloch und Hans Mayer und versteht, was der Fotograf eine Stunde zuvor in seiner Schwabinger Wohnung erklären wollte.

Moses hatte die beiden Philosophen 1963 in Tübingen vor einen großen Schneiderspiegel gestellt, hinter ihnen eine Kamera auf ein Stativ geschraubt und Hans Mayer schließlich den Auslöser in die rechte Hand gedrückt. Bloch und Mayer selbst sollten entscheiden, wann für sie der entscheidende, richtige Moment gekommen sei. Stefan Moses schaffte ihnen nur die technischen Voraussetzungen, beoachtete mit seiner eigenen Kamera, was dann geschah, und definierte auf diese Weise die Rolle des Fotografen in einer Zeit neu, in der Selbstreflexion noch lange kein Thema der Medien war. Für den Stern, die Zeit und den Spiegel hatte der gebürtige Liegnitzer damals bereits Reportagen fotografiert. Daneben entstanden bereits erste freie Fotoprojekte über Deutschland und die Deutschen: „Die großen Alten“ zum Beispiel, „Künstler und Masken“ und jene Bilderserie, für die er auch Bloch und Mayer vor die Kamera stellte: „Selbst im Spiegel“.

Ausgelöst wurde der Verschluss, als Ernst Bloch und Hans Mayer frontal in den Spiegel und damit auch in die Kamera blickten. Der eine hat die Pfeife aus dem Mund genommen, der andere seinen Schlips akkurat in den Hosenbund gestopft – beide schauen so ernst und seriös, wie es sich für die damaligen Chefdenker der Republik geziemte –, staatstragendes Selbstverständnis, von Revolution nicht der Hauch einer Spur. Neben dem eigentlichen Doppelbildnis, das längst zu einer der vielen Kollektiv-Ikonen der 68er-Bewegung geworden ist, hängen in der Münchener Ausstellung in einem separaten schwarzen Rahmen einige zusätzliche Aufnahmen, die die Entstehung des Fotos dokumentieren. Sie zeigen die viel interessanteren Bilder: die Sequenz jener Ereignisse, die Stefan Moses selbst fotografierte: wie Bloch und Meyer sich mit ihren Spiegelbildern anfreunden, wie sie Posen ausprobieren, wie beide einmal sogar den Anflug eines Lächelns zeigen – offenbar aus Freude über die ungewohnte Situation, in die Stefan Moses sie gebracht hat.

Eigentlich, erzählt Stefan Moses, habe er in der noch jungen Bundesrepublik die guten Deutschen und die bösen Deutschen fotografieren wollen. Er bekam Franz von Papen vor die Kamera und Admiral Dönitz. Irgendwann aber sei ihm aufgegangen, dass das Konzept nicht funktionierte, weil dem gedanklichen Schwarz-Weiß-Schema die Entsprechung in der Realität fehlte. „Bis vor etwa zehn Jahren wollte ich auch Leni Riefenstahl noch haben“, sagt Moses und lächelt. „Inzwischen nicht mehr.“ Stattdessen begann der 1928 im niederschlesischen Liegnitz geborene Anwaltssohn, in der Nachfolge August Sanders eine Typologie der Deutschen aufzustellen. Er fotografierte von den 60er- bis weit in die 80er-Jahre hinein Straßenbahnschaffnerinnen und Metallarbeiter, Rollmopspackerinnen, eine Bauernfamilie und eine Gruppe Gymnastiklehrerinnen. Während seine Kollegen in jenen Jahren die ganze Welt bereisten, zogen Stefan und Else Moses drei Jahrzehnte lang wie Wanderfotografen überwiegend durch Deutschland. Später wird der Fotograf vom „interessantesten Land der Welt“ sprechen. Das große Tuch, auf das Stefan Moses seine Modelle dafür jeweils stellte, liegt heute noch im Keller seiner Wohnung: fünf mal sechs Meter groß, grauer Filz. Als er nach dem Fall der Mauer den Gedanken der Nationentypologie für die Reihe „Deutsche – Ost“ wieder aufgreift, verwendet er es wieder. Wie auf Bertolt Brechts offener Bühne posieren diesmal nicht nur unbekannte, sondern auch prominente Zeitgenossen: Gregor Gysi und Hans Modrow, Heiner Müller mit Zigarre vor seinem Plattenbau und Egon Krenz, der Stefan Moses um Hilfe bei der Suche nach einem Studienplatz für seinen Sohn bat.

Kulturschaffende und Geistesgrößen aus Deutschland-West hatte Moses für die Reihe „Die großen Alten“ in den Wald eingeladen. Nicht falsches Pathos wie bei seinem Epigonen Konrad R. Müller oder Ironie waren sein Motiv, sondern einmal mehr Moses’ bis heute unstillbare Neugier auf das, was geschehen wird: Wie verhalten sich Ernst Jünger und Herbert Wehner, Gret Palucca und Hilde Domin, wenn sie ihrer gewohnten Umgebung und jeglicher Insignien beraubt werden? Die Ergebnisse verblüffen, amüsieren und rühren an: Tilla Durieux, eine der Ersten, mit denen Stefan Moses in den Wald zog, konnte sich auch dort nicht von ihrer Rolle als Schauspielerin lösen und inszenierte sich mit koketter Geste selbst. Willy Brandt hält sich beinahe verlegen an einem zarten Setzling fest, Marion Gräfin Dönhoff gibt sich melancholisch. Marianne Hoppe strahlt selbst im Wintermantel Wärme aus, Vicco von Bülow lächelt spöttisch, Hans Magnus Enzensberger lässt sich mit Mutter ablichten, die schon greise Käthe Kruse schließt innig eine Puppe in die Arme. Martin Walser schließlich hat nicht mehr viel vom deutschen Staatsdichter. In Rentnerjacke auf einem Baumstumpf sitzend, krault er seinen Hund: der deutsche Kleinbürger beim Gassigehen.

Als „Schöpfer des bundesrepublikanischen Stils“ hat sein Freund, der ehemalige Berliner Kultursenator Christoph Stölzl, Stefan Moses einmal chrakterisiert. Tatsächlich hat der heute 73-Jährige so umfassend und eigenständig wie neben ihm vielleicht nur noch Barbara Klemm Deutschland und die Deutschen dokumentiert und charakterisiert.

Neben seinen großen Serien, zu denen auch Moses’ Israel-Reportagen, die „Deutsche Gesellschaft“ und „Künstler machen Masken“ zählen, zeigt die Münchener Retrospektive auch zahlreiche autonome Bilder: Ingeborg Bachmann und Günter Grass auf einer Wahlkampfparty bei Willy Brandt, Gerhard Richter in seinem Atelier, Rose Ausländer im Altenheim. Klugerweise hatte das Stadtmuseum bereits 1995 das Archiv des Fotografen mit rund 20.000 Abzügen und mehr als 450.000 Negativen erworben.

Den Kern seiner Arbeit beschreibt Moses’ Interesse für sein Heimatland trotzdem nur unzureichend. Seine Arbeit ist nicht Ausdruck eines Nationalbewusstseins, sondern eines von tiefem Interesse an seinen Mitmenschen geprägten Humanismus. Ein „Gesamtkunstwerk von imperialer Zärtlichkeit und Empathie“ und ein „von menschenfreundlichem Wahnsinn getriebenes Urtier“ hat Stölzl den Fotografen folgerichtig auch genannt.

Wer Stefan Moses einmal begegnet ist, wer seine lebendigen Augen hat blitzen sehen, wenn er von seinen Begegnungen mit den bekannten und unbekannten Menschen erzählt, die er fotografiert hat, wer auch als nahezu Unbekannter von Stefan und Else Moses wie ein Freund empfangen wurde, weiß, was damit gemeint ist. Vielleicht ist deshalb jenes 1967 erschienene Buch „Manuel“ der schönste von inzwischen 15 Bildbänden, die der Fotograf inzwischen veröffentlicht hat. Stefan Moses dokumentierte darin in Fotosequenzen Ereignisse im Leben seines eigenen, damals fünfjährigen Sohnes. Natürlichkeit und Naivität, Aufmerksamkeit und Zuneigung haben seither kaum einen schöneren Ausdruck gefunden als in diesem längst vergriffenen Buch. Formal stehen die bis heute völlig unsentimentalen und doch unendlich zärtlichen Aufnahmen den fantastischen Bildern von Moses’ großem Fotografenkollegen Robert Frank in nichts nach.

Dass das, was Stefan Moses fotografierte, nicht allein journalistische oder dokumentarische Arbeit war, sondern hohe Kunst ist, wurde der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit spät bewusst: Während seine Bilder über die Printmedien, für die er seit den 50er-Jahren arbeitete, und über Bücher bereits hohe Verbreitung gefunden hatten, zeigte erst 1980 das Museum Folkwang in Essen die erste Einzelausstellung von Stefan Moses. An musealen Weihen scheint dem 73-Jährigen bis heute nicht viel zu liegen: „Sie brauchen doch nicht extra nach München zu kommen“, hatte Stefan Moses am Telefon gesagt, „der Katalog ist so hervorragend, der genügt doch auch.“

„Stefan Moses – Retrospektive“. Münchener Stadtmuseum, bis 23. Februar. Danach bis 2005 in Kiel, Berlin, Münster, Ludwigshafen, Oldenburg, Bonn, Halle und Dresden. Katalog: Schirmer-Mosel Verlag , 340 Seiten mit ca. 300 Abbildungen, Paperback, 25 €