: Verfechter eines westlichen Israel
Die liberale und antireligiöse Schinui-Partei legt bei letzten Umfragen im Wahlkampf deutlich zu. Parteichef Tommi Lapid vertritt ein Programm der Mitte. Zahlreiche Wähler sind frustriert über die gescheiterte Politik von Arbeitspartei und Likud
aus Jerusalem SUSANNE KNAUL
„Ab heute“, so schrieb der Rabbiner und Journalist Israel Eichler im Anschluss an den Wahlsieg von Ehud Barak 1999, „herrschen in unserem Land Angst und weltlicher Terror gegen die Orthodoxie.“ In dem Artikel in der Zeitung Orthodoxes Lager sah der Autor „brennende Synagogen, Hakenkreuze und Straßenkämpfe“ voraus. Eichlers Ausführungen erschienen absurd, hatte doch die orientalisch-orthodoxe Partei Schass eben 17 Mandate erreicht und der komplette religiöse Block in der Knesset nicht weniger als 27 der 120 Sitze.
Auslöser für die Panik war der Wahlerfolg seines ehemaligen Kollegen von der liberalen Tageszeitung Maariw, Jossef (Tommi) Lapid, der mit seiner antireligiösen Partei Schinui nach nur drei Monaten Wahlkampf mit sechs Mandaten ins Parlament einzog. Eine Zahl, die sich bei den Wahlen Ende des Monats mehr als verdoppeln wird, sollten sich aktuelle Umfragen bestätigen.
Grund für die Popularitätswelle ist die Frustration vieler Israelis über die linke Arbeitspartei, deren Friedensprozess scheiterte, und über den rechten Likud, dem es nicht gelang, Antworten auf den Terror zu finden und der gerade schwersten Korruptionsvorwürfen ausgesetzt ist. Schinui ist eine Partei der Mitte. Ja zu sofortigen Verhandlungen – allerdings nicht mit Palästinenserchef Jassir Arafat, so heißt es in dem Programm, außerdem: „Ja zu territorialen Kompromissen“ ohne die Auflösung größerer Siedlungsblöcke.
Innenpolitisch träumt Lapid von einer weltlichen Regierung, in der er zuerst das Religionsministerium auflösen würde, wie er seinen Parteimitgliedern versichert. Gut 300 Leute sind gekommen, meist zwischen 40 und 50 Jahre alt. Alle gut gekleidet, alle aschkenasischer (europäisch-jüdischer) Herkunft und alle nicht erkennbar fromm. „Revolution der Bourgeoisie“ überschrieb die Jerusalem Post ihren Bericht über den exklusiven Parteitag.
70 Prozent der Bevölkerung, so bestätigen Umfragen, die die Partei in Auftrag gab, würden anstelle der religiösen Fraktionen lieber die Schinui in der künftigen Regierung sehen. Ginge es nach Lapid, würde es eine große Koalition zwischen Likud, Arbeitspartei und Schinui geben.
Die Ursprünge der Schinui reichen in die 70er-Jahre zurück. Damals gründete eine Gruppe von Intellektuellen eine liberale Bewegung, die 1992 in dem Parteienbündnis Meretz aufging, wo sich in Fragen zu Menschenrechten, Verfassung und Friedenspolitik ein gemeinsames Lager fand. Über sozialökonomische Differenzen zerbrach das Bündnis 1997. Lapid schloss sich Anfang 2000 der Partei an.
Bis zu seiner zweiten Karriere als Politiker war er der vielleicht bekannteste und umstrittenste israelische Journalist, ehemals Rundfunkdirektor und später Kolumnist von Maariw. Mehrfach zog er gegen Deutschland in den Kampf, warnte vor dem „wirtschaftlichen Koloss“, der mit der Wiedervereinigung heranzuwachsen drohe, und wetterte gegen eine deutsche Beteiligung am Krieg in Jugoslawien. „Ich war in Jugoslawien, als die deutsche Armee einmarschierte“, erinnert er sich an seine Kindheit. „Damals lebten 70.000 Juden dort. 10.000 überlebten. Man muss schon Nerven haben, um noch einmal deutsche Soldaten dorthin zu schicken.“
Als letzter Holocaust-Überlebender in der Knesset will Lapid auch „Repräsentant der Ermordeten“ sein. Sein Verhältnis zu Deutschland nennt er gespalten. „Auf der einen Seite bin ich ein Produkt par excellence der zentraleuropäischen Kultur und hatte sieben Jahre lang ein deutsches Kinderfräulein. Auf der anderen bin ich Holocaust-Flüchtling. Mein Vater ist in Mauthausen umgekommen. Diese Rechnung trage ich sehr intensiv in meinem Herzen.“
Dennoch ist Schinui gerade auch eine Bewegung, die den westlichen Charakter Israels stärken will. „Für mich kommt jeder Kontakt, jeder Kanal nach Europa, jede Wassermelone, die wir dorthin exportieren, und jedes Buch, das ich von Bertelsmann kaufe, dem Hüten des Lebensstils einer Welt gleich, der wir auf der natürlichsten Weise kulturell zugehörig sind.“ Wie Dänemark zu sein, wünscht er sich, nur nicht in die Levante abrutschen, nicht in einen „korrupten Orient, einen faulen Orient, einen fanatischen Orient, der die ganze Welt bedroht“.