Was brachte der Battle of Seattle?

Am 30. November 1999 beginnen in Seattle die Proteste von Globalisierungskritikern gegen die Ministerkonferenz der Wirtschafts- und Handelsminister (WTO). Seattle gilt als Geburtsstunde der Globalisierungskritik. Welche Folgen hat der Protest? Drei Teilnehmer berichten und bilanzieren

Das zentrale Ereignis in der globalisierungskritischen Bewegung ist der Abbruch der 3. WTO-Konferenz in Seattle im Dezember 1999, wo es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Globalisierungskritikern und der Polizei kommt. Nach Seattle erfährt die globalisierungskritische Bewegung eine weltweite Verbreitung. Das zweite zentrale Ereignis vollzieht sich beim G-8-Gipfel in Genua 2001, während der Regierungszeit von Silvio Berlusconi. Ein italienischer Polizist erschießt den italienischen Aktivisten Carlo Giuliani.

Die Demonstrantin: Friederike Habermann.

Mutmaßlich einzige deutsche Teilnehmerin an den Demos.

„Nur 200 von 3.000 Delegierten sind durchgekommen – sie haben die Konferenz für heute abgesagt!“ – wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese Nachricht unter uns auf den Straßen von Seattle. Damit hatte ich nicht gerechnet. Dabei prophezeite unser US-amerikanischer Mitstreiter Michael schon Monate vorher, in Seattle werde bis auf Ebbe und Flut alles stillstehen.

Wir – Asif als Vertreter von Bauern aus Pakistan, Taira als Aktivistin der indigenen Kuna aus Panama, der Umweltschützer Sagi aus Israel und ein gutes Dutzend weitere – waren als „Interkontinentale Karawane“ der weltweiten Vernetzung von Basisbewegungen Peoples Global Action fünf Wochen lang mit einem umgebauten Schulbus von Philadelphia über New York, Boston, dann quer durch die USA nach San Diego und von dort hoch nach Seattle gefahren. Vorher hatten wir lokale Gruppen vor Ort kontaktet und verabredet, je ein Teach-in und eine kleine Aktion zu machen. In vielen Städten kamen hierdurch Gruppen zusammen, die sonst nichts miteinander zu tun hatten: die Anti-Kriegs-Initiative im Rentenalter mit den jugendlichen Veganern, Native Americans mit Stahlarbeitern. Doch so enthusiastisch die Teach-ins verliefen, die Aktionen sahen in der Regel so aus, dass uns jemand vor ein Gebäude brachte, wo wir uns hinstellen sollten und vorbeifahrenden Autos unsere Plakate hinhalten. Nur in New York, Los Angeles und San Francisco kamen nennenswerte Aktionen zustande – während die Polizisten darauf aufpassten, dass wir nicht den Bürgersteig verließen. Nein, eine Protestkultur gab es zu diesem Zeitpunkt in den USA nicht.

Als „Coming-out-Party“ der Globalisierungsbewegung sind die Tage von Seattle zu Recht beschrieben worden. Denn Proteste hatte es über Peoples Global Action organisiert bereits bei der vorherigen WTO-Ministerkonferenz in Genf im Mai 1998 gegeben; sowohl vor Ort (der Polizeichef sprach von einem „neuen 68“) als auch weltweit: So hatten in Indien 100.000 und in Brasilien 40.000 demonstriert, und der erste Global Action Day war als Global Street Party in 37 Städten auf allen Kontinenten gefeiert worden. Dass aber die Party in Birmingham und die in Prag zusammengehörten, verstand selbst die taz damals nicht in ihrer Berichterstattung. Warum also wurde Seattle zur Wahrnehmungsrevolution?

In erster Linie wegen des Erfolgs, die Konferenz am ersten Tag verhindert zu haben. Organisiert worden waren die Blockaden vom Direct Action Network (DAN), welches sich auf den Grundsätzen von Peoples Global Action formiert hatte. Möglich wurde er auch durch eine Koordinierung unter allen Beteiligten – dem DAN, den Gewerkschaften, den NGOs –, allerdings ohne sich im Streit um Konsense aufzureiben und die Positionen zu verwässern.

Die Bedeutung von Seattle liegt in erster Linie hierin: gezeigt zu haben, dass es viele Kämpfe und viele Antworten gibt – von vielen Identitäten und an vielen Orten. Hinter diese Vielfalt nicht zurückzufallen, ist das wesentlichste Element für die Zukunft der Globalisierungsbewegung.

Das NGO-Mitglied: Peter Wahl.

Langjähriger Attac-Funktionär. War für die NGO Weed in Seattle.

Dass es zum Eröffnungstag der WTO-Konferenz Protestaktionen geben würde, war angekündigt worden. Die übliche Begleitmusik, dachte ich bei mir. Als ich dann aber am Morgen des Eröffnungstages an der Kreuzung vor dem Convention Center stand und für Stunden nichts mehr ging, weil in der besten Tradition der Bürgerrechtsbewegung der Zugang blockiert war, dämmerte mir, dass hier was Außergewöhnliches geschah.

Ebenso überraschend für mich war tags darauf die Demo der Gewerkschaften. Der AFL-CIO, den ich bis dahin für den Inbegriff eines verknöcherten Apparates hielt, zeigte mit 50.000 Demonstranten eine kulturelle Ausstrahlung von Gewerkschaft, wie ich sie bis dahin nicht erlebt hatte: karnevaleske Buntheit, Brass-Bands und Jazz-Combos, die Farben von New Orleans im regnerischen Nordwesten, die ganze ethnische Vielfalt des Landes und eine enorme politische Pluralität von Öko, über Gender, Migration und Antirassismus bis zur Tobin-Steuer. Natürlich gab’s auch Forderungen nach „American jobs“, aber sie dominierten keineswegs. Als sich dann in vielen Gesprächen herausstellte, wie NGOs, Gewerkschaften und Gruppen des zivilen Ungehorsams die Gesamtchoreografie der Proteste professionell vorbereitet hatten, legte sich meine europäische Überheblichkeit gegenüber der amerikanischen Linken vollends. Seattle war ein Markstein in der Geschichte sozialer Bewegungen.

Freilich, es hatte auch schon vorher Anzeichen gegeben, dass die Akzeptanz des neoliberalen Hurraglobalismus nicht mehr ganz so ungebrochen war: 1998 war das Multilaterale Investitionsabkommen (MAI) – ein ultraliberales Projekt – nach starken Protesten gescheitert. Und in Reaktion auf die Asienkrise war im Dezember 1998 der Aufruf von Le Monde Diplomatique „Entwaffnet die Märkte“ erschienen, der zur Gründung von Attac Frankreich geführt hatte. Auch hierzulande hatte der recht erfolgreiche Alternativgipfel zum Kölner G 8 (Juni 1999) gezeigt, dass sich die Kritik am Neoliberalismus zu formieren begann. Seattle hat das dann weiter beschleunigt. Nicht zuletzt deshalb, weil auch der Gründungsprozess von Attac Deutschland dadurch ordentlich Rückenwind bekam.

Denn bereits ein Vierteljahr vor dem spektakulären Scheitern der WTO, am 14. September 1999, trafen sich Kairos Europa, Pax Christi und WEED in Frankfurt, um ein öffentliches Gründungstreffen für den 22. Januar 2000 vorzubereiten.

Anfangs hatten wir optimistisch mit 30 Teilnehmern kalkuliert. Drei Wochen nach Versand der Einladung kam dann Seattle. Das war natürlich ein Geschenk des Himmels für unser Vorhaben. So kamen dann mit 120 tatsächlich viermal so viel Leute, als wir ursprünglich erwartet hatten. Der Beginn einer erstaunlichen Erfolgsgeschichte.

In der ersten Presseerklärung vom 22. 1. 2000 heißt es: „Die Politik muss wieder die Souveränität über die Finanzmärkte gewinnen.“ Neben der Tobin-Steuer wird die Schließung von Steuerparadiesen gefordert und „auf die Rolle Liechtensteins als Geldwaschanlage im CDU-Finanzskandal hingewiesen“. Gefordert wird auch „das Verbot hochspekulativer Einrichtungen und Finanzinstrumente wie Hedge-Fonds und bestimmte Derivate.“ Aktueller geht’s kaum noch.

Der Politiker:

Ulf Jaeckel.

Leiter des Bereichs „Produktbezogener Umweltschutz, Normung“ im Bundesumweltministerium (BMU). War für das BMU in Seattle.

Sobald es dunkel war, wurde es ruhig und der Wind pfiff durch die leeren Straßen. Manchmal war eine Polizeistreife zu sehen. Nach den Protesten und Blockaden des ersten Konferenztags, denen auch die Reden von Kofi Annan und Bill Clinton zum Opfer gefallen waren, war eine Ausgangssperre verhängt worden. Sie war wirksam. Die Situation erinnerte sehr an einen düsteren Kriminalfilm und lag weit außerhalb dessen, was ich als ein Mitglied der Regierungsdelegation auf einer Welthandelskonferenz erwartet hatte.

Es war unheimlich, nachts durch die leeren Straßen zu laufen, um mit anderen Delegationen und den NGOs Kontakt zu halten. Informationen zum aktuellen Geschehen auf der Konferenz gab es kaum, Handys waren noch nicht verbreitet. Nur der Kontakt zu den anderen ermöglichte ein halbwegs realistisches Bild. Ich klammerte mich also jede Nacht an meinen Tagungsausweis in der Hoffnung, durch ihn irgendwie meine nächtlichen Ausflüge legitimieren zu können. Der Tagungsausweis war das einzig anerkannte, weil von US-Behörden ausgestellte Dokument. Selbst mein „sehr offiziell“ aussehender Dienstpass galt nichts, wie ich einmal vor einer – sonst nur in düsteren Zukunftsvisionen existenten – beängstigenden Mauer aus schwarz gekleideten und durch Helmmikrofone sprechenden US-Polizisten vor unserem Hotel erfahren musste. Die Sicherheitskräfte misstrauten erst einmal jedem.

Dieses Misstrauen ist mittlerweile in Globalisierungsdingen überall zu finden, nicht nur im Verhältnis von Ordnungsmacht und Protestierenden. Die Protestbewegungen misstrauen – zu Recht oder nicht – den Handelspolitikern, und letztlich herrscht ein solches Klima des Misstrauens auch unter den Handelspolitikern. Dies ist sicherlich eine Ursache des langjährigen Fast-Stillstands der WTO-Verhandlungen. Zudem hat Seattle nicht nur den Globalisierungskritikern gezeigt, dass die Liberalisierung des Welthandels nicht unangreifbar und zwangsläufig ist. Auch die Entwicklungsländer haben gesehen, dass sie nicht alles akzeptieren müssen. Dieses veränderte Selbstbewusstsein ist in den letzten Verhandlungsjahren immer deutlicher geworden.

Gleichwohl wäre für mich ein Erfolg der sogenannten Doha-Runde in mehrfacher Hinsicht sinnvoll, da Handelsregeln, die für (fast) alle Länder gelten, immer noch besser und transparenter sind als bilaterale Vereinbarungen, bei denen die großen Handelsnationen im Vorteil und die Verhandlungen für die Öffentlichkeit kaum nachvollziehbar sind.