piwik no script img

Archiv-Artikel

Von Lichtenhagen zu Goldhagen

Am 24. August 1992 fliegen Brandsätze in ein elfstöckiges Haus der Plattenbausiedlung Rostock-Lichtenhagen, in dem weit über hundert Vietnamesen leben. Es ist das erste Pogrom auf deutschem Boden seit 1945. Fernseh-Deutschland ist dabei. Doch das Nachdenken darüber hilft, die Berliner Republik mitzubegründen

FREMDENHASS

1992 häufen sich fremdenfeindliche Verbrechen.August 1992: Im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen initiieren deutsche Bewohner (und angereiste Rechtsradikale aus der alten Bundesrepublik) Krawalle gegen dort in einem Asylbewerberheim lebende Ausländer. Bei den Anschlägen riskieren sie den Tod von über 100 Vietnamesen, als sie deren Unterkünfte in Brand stecken. Anwohner blockieren die Notausgänge mehrerer Wohnhäuser, um eine Flucht der Eingeschlossenen zu verhindern. Der rassistische Aufstand dauert fünf Tage. Mehrere Dutzend Täter werden in den Monaten nach der Hatz verurteilt. November 1992: Im schleswig-holsteinischen Mölln zünden zwei Neonazis zwei Häuser an, in denen türkische Familien leben. Drei Menschen sterben, sieben werden verletzt. Mai 1993: In Solingen, Nordrhein-Westfalen, zünden vier Männer aus der neonazistischen Szene ein von Türken bewohntes Zweifamilienhaus an. Fünf Menschen sterben in den Flammen, drei weitere erleiden schwere Verbrennungen. Die verurteilten Täter sind inzwischen wieder frei. Und die zivilgesellschaftliche Reaktion: In München wird im Dezember 1992 die erste sogenannte Lichterkette gebildet – als stiller Protest gegen Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. Millionen Menschen beteiligen sich in der Zeit danach an ähnlichen Aktionen.

Es begann an einem Samstag. Ein größtenteils jugendlicher Mob wütete gegen „Asylanten“ und forderte: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ Doch es blieb nicht bei rassistischen Slogans. Die herbeigerufenen Polizisten wurden brutal angegriffen. Mecklenburg-Vorpommerns zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen wurde mit Molotowcocktails beworfen. Zwei Tage später, am Abend des 24. August 1992, flogen unter dem Jubelgeschrei Tausender Brandsätze in das elfstöckige Sonnenblumenhaus der Plattenbausiedlung, in dem weit über hundert Vietnamesen ausharrten. Unter den Eingeschlossenen befanden sich der Ausländerbeauftragte der Hansestadt, Wolfgang Richter, einige deutsche Wachleute und ein Fernsehteam des ZDF. Die Polizei hatte sich zurückgezogen, die Feuerwehr wurde vom Pöbel in die Flucht geschlagen. Die Eingeschlossenen, darunter viele Kinder, drohten zu ersticken. Erst in letzter Minute gelang es ihnen, durch eine Dachluke zu flüchten.

Über ein Jahr lang waren die Behörden untätig geblieben, als die ständige Überlastung der Aufnahmestelle mitten in einem Wohngebiet zu unhaltbaren Zuständen geführt hatte. Asylbewerber, größtenteils rumänische Roma, kampierten auf Wiesen und schliefen unter den Balkonen von Anwohnern. Sanitäre Anlagen standen nicht ausreichend zur Verfügung. Nun aber wurde nicht die Tatsache des ersten Pogroms auf deutschem Boden seit 1945 skandalisiert, sondern der „unkontrollierte Zustrom von Ausländern“, wie Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lothar Kupfer sagte.

Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) forderte, endlich das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl einzuschränken, ein Projekt, das die Union seit Längerem betrieb. Kritiker kamen daher nicht umhin, die öffentliche Inszenierung der Menschenjagd und ihre nachträgliche Rechtfertigung durch führende Politiker als Teil einer Strategie zu interpretieren. Am deutlichsten formulierte das der Journalist Giovanni di Lorenzo in der Süddeutschen Zeitung am fünften Tag der Ausschreitungen. Es falle schwer, „an bloße Unfähigkeit zu glauben, will man die Fehler und Versäumnisse vor und während der Krawalle schildern. Der Verdacht der Fahrlässigkeit, wenn nicht auf Vorsatz drängt sich auf.“

Die Bundesregierung jedenfalls nutzte die Gunst der Stunde und kündigte eine Grundgesetzänderung des Asylparagrafen 16 innerhalb weniger Wochen an. Begründet wurde dies mit der schlechten Stimmung gegenüber Asylbewerbern im Land, deren Zahl seit 1991 tatsächlich stark angestiegen war. Aufgrund der Überlastung des Systems war es zu einer faktischen Einwanderung von Armutsflüchtlingen gekommen. Das veranlasste Kanzler Helmut Kohl, vom „Staatsnotstand“ zu sprechen, während er über seine haltlosen Versprechen an die Ostdeutschen vor nicht allzu langer Zeit schwieg. Manche Medien schürten vor und nach Lichtenhagen die Hysterie mit immer neuen Meldungen über Massen von Ausländern, die angeblich Deutschland überfluteten. „Das Boot“ sei „voll“. SPD und FDP stimmten im Dezember 1992 schließlich dem sogenannten Asylkompromiss zu.

Trieb der rechte Mob die Politik vor sich her, oder tat der rechte Mob genau das, was die Politik im Kampf um die Stimmen der „Mitte“ von ihr wollte? Man konnte sich nicht sicher sein in diesen Tagen. Anfang 1992 hatten rechte Parteien bei Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg deutliche Stimmengewinne erzielen können. Ein Jahr vor Lichtenhagen hatten Neonazis nach vier Tage dauernden, massiven Angriffen auf Migranten und ein Asylbewerberheim die sächsische Stadt Hoyerswerda für „ausländerfrei“ erklärt. 1992 wurden in Deutschland bereits 657 Anschläge mit rassistischem Hintergrund gezählt, in denen Brandsätze und Bomben zum Einsatz kamen. Häufig zeigte die Justiz Milde. Wenn es zu Verhaftungen, Verfahren und Verurteilungen kam, dann regelmäßig wegen Landfriedensbruchs. Auch in Rostock wurden die Verfahren über Jahre hinweg verschleppt. Diejenigen, die endlich eingeleitet wurden, bezeichneten Beobachter als Farce.

Dabei war fünf Tage lang ganz Fernseh-Deutschland dabei gewesen, als über hundert Männer, Frauen und Kinder beinahe erstickten. Was der verblüffte Zuschauer hier sah, war eine Laborsituation, in der deutlich wurde, wie eine faschistische Avantgardebewegung Politik machen konnte: Voraussetzung waren Ressentiments und ein Gefühl von Bedrohung und Verunsicherung, das größere Teile der Bevölkerung erfasste. Für ihre politischen Erfolge brauchten die Rechtsextremisten aber vor allem eins: die klammheimliche oder offene Komplizenschaft von Repräsentanten des Staatsapparats und der Medien, die taktische Erwägungen über ihre Werte stellten, sofern sie welche hatten.

Die Westdeutschen erschraken beim Anblick eines erst im Osten grassierenden, aktionistisch-gewalttätigen Rassismus, der dann aber in den Westen zurückschwappte. Von da waren die Neonazikader auch hergekommen, um den Volkszorn zu organisieren. Die Gespenster einer Vergangenheit, die man „bewältigt“ glaubte, kehrten zurück.

„In Hoyerswerda hat der hässliche Deutsche sein Coming-out“, schrieb etwa Spiegel-Reporter Matthias Matussek. „Jahrelang mussten sie schweigen. Jetzt fließt der braune Dreck in Strömen heraus.“ Im Osten also hatte die Vergangenheit geschlummert, um Deutschland in Gestalt von braunen Zombies wieder heimzusuchen. Das war die Projektion einer westdeutschen Öffentlichkeit, die noch nicht gemerkt hatte, dass auch die wattierte Ära der alten Bundesrepublik vorbei war. Dieser Staat hatte sich notgedrungen in einem beinahe außerhistorischen Zustand eingerichtet. Hier verdammten Politiker rassistische Vorfälle gerne mit dem Hinweis, so etwas schade „dem deutschen Ansehen im Ausland“.

Deutschland hatte nun aber zugesehen, wie Rechtsextremisten und von ihnen dirigierte Jugendliche bei ihren vielfachen Mordversuchen von deren Eltern angefeuert wurden. Gegenüber Reportern bezeichneten diese sich selbst meist als „normale Bürger“.

Kurz nach den Krawallen machte ein Fernsehteam ein aufschlussreiches Experiment. Es suchte Lichtenhagener Bürger auf, um sie nach den Ausschreitungen zu befragen. Die Interviewten wurden mit Fernsehaufnahmen konfrontiert, die sie deutlich erkennbar beim Jubeln zeigten. Da behaupteten die Ertappten steif und fest, das könnten gar nicht sie, das müsse jemand anders gewesen sein. Galt das Wort „Rassismus“ nicht auch in der bürgerlichen Mitte des Westens als Unwort mit linksradikalem Beigeschmack? Rassisten gab es höchstens in Südafrika.

Auch diese hartnäckige Form des Verleugnens und Verdrängens kam dem interessierten Publikum bekannt vor. Mit den antirassistischen „Lichterketten“-Aktionen zeigte es im Winter 1992 endlich selbst Präsenz auf den Straßen, nachdem es Anfangs nur die radikale Linke gewesen war, die zum gesellschaftlichen Widerstand gegen rassistischen Terror aufgerufen hatte. Es war daher überhaupt nicht erstaunlich, dass die Debatte über die Verstrickung der deutschen Gesellschaft in die Verbrechen des Nationalsozialismus im Verlauf der Neunzigerjahre trotz des vielfach geäußerten Wunsches nach Normalität im wiedervereinigten, endlich wieder souveränen Deutschland eine neue Dimension erreichte. Die nach 1945 staatstragende Totalitarismustheorie, wonach die gesellschaftliche Mitte per se demokratisch und gemäßigt, die Extreme rechts und links außen aber demokratiefeindlich seien, stimmte ganz offensichtlich nicht. Die Medienkampagne, die Beifall spendenden Bürger, die Masse der Anschläge und Übergriffe zeigten, dass die Mitte selbst unter bestimmten Umständen zum Hort antidemokratischer Ideologien werden konnte. Man konnte daher auf die Idee kommen, auch die scholastischen Sprachregelungen des bürgerlich-konservativen Spektrums hinsichtlich der Jahre von 1933 bis 45 zu hinterfragen: Hatte es tatsächlich nur Verbrechen in der Wehrmacht gegeben, oder waren es nicht eher Verbrechen der Wehrmacht gewesen? In der Debatte um die Wehrmachtsausstellung wurde erbittert über diese Fragen gestritten. Am Ende setzte sich die in der Forschung längst unumstrittene Lesart auch im Publikum durch: Die Wehrmacht war am Vernichtungskrieg im Osten und der Vernichtung des europäischen Judentums beteiligt.

Wenn jedoch die eherne Regel nicht mehr stimmte, dass zwar die Nazis Verbrecher waren, die Wehrmacht aber sauber geblieben war, was ließ sich daraus über die gesellschaftliche Verantwortung jener Deutscher schließen, die nicht zur Nazi-Nomenklatura gehört hatten? Diese Frage stellte in ihrer ganzen Heftigkeit Daniel Goldhagens Buch „Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust“, das 1996 in den USA und bald darauf auch unter dem Titel „Hitlers willige Vollstrecker“ in Deutschland veröffentlicht wurde.

Die weltweite Community der Zeitgeschichtler hielt das Buch, das vom deutschen Polizeireservebataillon 101 handelt, beinahe geschlossen für dürftig. Allzu monokausal war Goldhagens These eines „eliminatorischen Antisemitismus“, der die Deutschen – und nur sie – bereits lange vor dem Siegeszug des Nationalsozialismus wie eine Krankheit befallen habe. Die Kritiker in den Feuilletons wiesen darauf hin, dass Goldhagen wenig mehr als die Kollektivschuldthese aus der Mottenkiste geholt hatte. Trotzdem äußerte sich die Diskussion des Buches in den deutschen Medien nicht als nüchterne Kritik, sondern als hochemotionale Abwehrreaktion. Im Einklang mit fast allen bürgerlichen Feuilletons wurden auch in der taz zustimmende Einschätzungen anfangs als Ausdruck einer „zur Flagellanten-Geste verkommenen Selbstbezichtigungsrhetorik“ bewertet.

Dass das Buch in den USA und in Deutschland so erfolgreich war, erklärte der führende Holocaustforscher Raul Hilberg mit der einfachen Antwort, die es auf die Frage nach dem Warum lieferte: „Goldhagen hat uns das Bild eines quasi mittelalterlichen Incubus hinterlassen, eines im deutschen Geist stets latent vorhandenen Dämons, der nur auf die Gelegenheit zum Losschlagen gewartet hatte.“ Wie die anderen Kritiker übersah Hilberg aber einen simplen Fakt. Dabei hatte er selbst über den Titel des Buchs geschrieben, dieser spreche nur aus, „was wir eigentlich immer schon gewusst haben: Diese Männer waren nicht nur Killer, sondern auch noch willig.“ Auch im Untertitel werde bloß eine hinlänglich bekannte Tatsache wiederholt. „Die meisten Vollstrecker der Erschießungsaktionen waren ganz normale deutsche Polizisten.“

Es gibt eine durchgeknallte Randzone, der ihr homophobes, antisemitisches und rassistisches Denken nicht ausgetrieben werden kann

Der blinde Fleck der Kritik lag eben hier: Das deutsche Publikum hatte das, was für Historiker wie Hilberg der Forschungsstand war, noch lange nicht verinnerlicht. Es waren viele willige Helfer nötig, um die Vernichtungsmaschinerie am Laufen zu halten, und auch die Zahl der Profiteure war groß. Sie alle waren ganz normal.

Ins Bewusstsein des deutschen Publikums brannte sich daher nicht Goldhagens These einer von antisemitischem Vernichtungswillen getränkten deutschen Seele, sondern schlicht der Titel seines Buchs, der wie ein Popsong ein Jahr lang in aller Munde war. Er sagte das Offensichtliche, das allerdings dem jahrzehntelangen Mantra vieler Meinungsführer der Republik eklatant widersprach. Spiegel-Gründer Rudolf Augstein etwa hatte in einem Aufsatz über die Deutschen mit dem beleidigt klingenden Titel „Zu groß, zu tüchtig, zu mächtig“ noch 1991 eine ganz andere Rechnung aufgemacht: „Von den vielleicht – vielleicht! – 200.000 Mittätern am Judenmord leben allenfalls noch 200.“

Die Debatten um die Verbrechen der Wehrmacht, das Buch von Goldhagen und die Frage der Entschädigung der Zwangsarbeiter waren Selbstverständigungsdebatten einer Gesellschaft, die zwar mehrheitlich den Krieg nicht mehr erlebt, aber die Ereignisse von Lichtenhagen am Fernseher verfolgt hatte. Das hatte sie wenigstens für den Moment ein gesundes Misstrauen gegenüber dem Ruf nach „Normalisierung“ im Sinne eines Schlussstrichs gelehrt. Es war eines der Mosaiksteine im Fundament der Berliner Republik, die 1998 mit der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder begann. Der hatte die „Asyldebatte“ schon vor Lichtenhagen als „Phantom-Diskussion“ charakterisiert. Schröder wies damals außerdem auf einen anderen, entscheidenden Punkt hin: Deutschland brauche schon aus demografischen Gründen Zuwanderung. Unter Rot-Grün erhielt Integrationspolitik einen völlig neuen Stellenwert. Diese gern unterschätzte Errungenschaft zählt zum Kernbestand der Berliner Republik: Migranten werden nicht mehr als Ausländer betitelt, von Integration wird nicht nur geredet, und sie meint auch nicht mehr, dass sich nur die anderen bewegen müssen.

Man konstatierte nun nüchtern, dass auch in Deutschland gut fünfzehn Prozent der Bevölkerung dem zuzurechnen sind, was die Angelsachsen lunatic fringe nennen, die durchgeknallte Randzone. Dieser kann ihr paranoid homophobes, antisemitisches und rassistisches Denken zwar nicht ausgetrieben werden, aus dem Zentrum gesellschaftlicher Diskurse lässt es sich aber wirksam ausgrenzen. Stellt man sich geschichtlichen Fortschritt als Videospiel vor, dann hat es Deutschland mit Rot-Grün auf die nächste Ebene geschafft. Dass mancherorts offener Rassismus weiterhin Normalzustand ist, steht auf einem anderen Blatt.

ULRICH GUTMAIR, Jahrgang 1968, taz-Kulturredakteur, kann sich noch gut an diese Tage im August 1992 erinnern. Er verbrachte sie fassungslos vor dem Fernseher.