: Die schüchterne Guerillera
Am 22. August 1978 stürmen 26 sandinistische Guerilleros den Nationalpalast von Managua. Die Revolution in Nicaragua beginnt. Dora María Téllez führt sie an
Nicaragua liegt in Mittelamerika, grenzt im Norden an Honduras, im Süden an Costa Rica, im Westen den Pazifik und im Osten die Karibik. 5,8 Mio. Einwohner. Hauptstadt: Managua. Sandinistas: Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN), seit 1961 aktive revolutionäre Befreiungsbewegung in Nicaragua. FSLN u. a. stürzten am 17. Juli 1979 die seit 43 Jahren bestehende Somoza-Diktatur. Dann Agrarreform, Alphabetisierung, Zurückdrängen der politischen und wirtschaftlichen Interessen der USA. 1990 abgewählt. Sandinista! Name des vierten Albums der britischen (Punk-)Rockband The Clash. Symbolisiert die Wichtigkeit für die europäische Linke. Die Qualität des Triple-Albums ist umstritten. Was war die Faszination an Nicaragua? Verkürzt gesagt: Die Idee, eine menschlichere Gesellschaft neu aufzubauen – und als Deutscher daran teilzuhaben; in einer Zeit vieler Desillusionen: Schmidt, Kohl, Reagan – und Fidel Castros Kuba. Auch in der DDR verbanden Menschen Hoffungen mit Nikaragua, wie man dort schrieb – und (deshalb) auch bei der DKP. Nicht zu vergessen: der Pop-Appeal dieser jugendlichen, gutaussehenden Revolutionäre.
Sie galt für viele Frauen als ein Sinnbild der Revolution: jung, unerschrocken und von einer herben Schönheit. Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez schilderte sie in einer Nacherzählung der Ereignisse als „ein schüchternes, in sich vertieftes, schönes Mädchen“ und bescheinigte ihr „eine Intelligenz und eine klare Urteilskraft, mit denen sie es im Leben weit gebracht hätte“. Dora María Téllez war die einzige Frau im Führungstrio eines wagemutigen Kommandos, das mit einer Geiselnahme die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf eine brutale Diktatur lenkte und den Namen der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) weit über die Grenzen Zentralamerikas bekannt machte. Sie verkörperte das, was die die Faszination der nicaraguanischen Revolution in Europa ausmachte: Jugendlichkeit und Humanität.
Es war die erste Revolution, die sich auf die von der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Medellín (1968) ausgerufene „Option für die Armen“ berufen konnte, also das soziale Engagement der Kirche. Ihr Aushängeschild war der Dichter und Befreiungstheologe Ernesto Cardenal. Kirchliche Kreise konnten sich also genauso wie traditionelle linke Gruppen für das Experiment begeistern, das versuchte, von Kuba und Europa das Beste abzukupfern, und so gar nichts mit drögem Realsozialismus gemein hatte. Dazu kam, dass die Sandinisten sich gegen die USA und ihren Präsidenten Ronald Reagan behaupten mussten, der eine Konterrevolution in Stellung brachte, die allen Definitionen terroristischer Banden entsprach. Die „Contras“ richteten ihre blutigen Anschläge gegen Alphabetisierer, Erntehelfer, Kindergärten oder Genossenschaften – kurz, alles, was die Revolution ausmachte.
Dreißig Jahre später kämpft Dora María Téllez noch immer für die Demokratie, allerdings gegen einen Mann, mit dem sie damals die Ideale geteilt hatte, nämlich Präsident Daniel Ortega. Im vergangenen Juni protestierte sie in einem dreiwöchigen Hungerstreik gegen die Auflösung ihrer Partei, der Sandinistischen Erneuerungsbewegung (MRS) – eine offensichtlich willkürliche Entscheidung.
Das schüchterne Mädchen von damals ist längst nicht mehr schüchtern. In den schwarzen Lockenkopf sind graue Strähnen gedrungen. Die rauchige, von hunderttausenden Zigaretten gegerbte Stimme klingt auch bei emotionalen Themen immer sachlich. In ihrem Haus im Stadtteil Pancasán von Managua wird Dora María Téllez von zwei bulligen Hunden bewacht, die laut anschlagen und erst gebändigt werden müssen, wenn Besuch kommt.
Am 22. August 1978 nahm eine Gruppe sandinistischer Guerillakämpfer den Nationalpalast im Herzen der Hauptstadt Managua im Handstreich. Mehrere Dutzend Abgeordnete des Scheinparlaments wurden als Geiseln genommen. „Operation Schweinestall“ lautete der Codename für das Unternehmen, denn als politischer Schweinestall galt der Palast, wo der Diktator willfährige Politiker mit hohen Gehältern seine Wünsche in Gesetze gießen ließ. Die meisten Guerilleros kannten das Gebäude nicht einmal aus den Medien. Einzig Edén Pastora, als „Comandante Cero“ der oberste Anführer, war als Kind einmal im Inneren des Palasts gewesen. Dora María hieß als dritte Verantwortliche „Comandante Dos“.
Anastasio Somoza Debayle, der letzte Herrscher einer über vierzigjährigen dynastischen Diktatur, gab nach zwei Tagen Nervenkrieg nach und erfüllte die Forderungen: Freilassung der politischen Gefangenen und Zahlung von einer Million Dollar als Lösegeld. Die siegreichen sandinistischen Guerilleros wurden, vermummt mit schwarzen Tüchern, zum Flughafen gebracht und nach Panama ausgeflogen.
Das vorrangige Ziel der spektakulären Geiselnahme war ein ziemlich profanes, zu dem man sich damals aus verständlichen Gründen nicht bekennen wollte: „Wir mussten die Gefangenen freipressen, um unsere Kriegsfronten zu stärken“, erklärte Dora María Téllez vor einigen Jahren in einem langen Gespräch mit der taz, „wir hatten ständig Zulauf von neuen Kämpfern, aber es fehlten die Anführer“. Selbstverständlich wurde auch Geld für Waffen gebraucht. Für den Überfall auf den Nationalpalast hatte das 26-köpfige Kommando fast das komplette Arsenal der schlecht ausgerüsteten Guerillagruppe bekommen. Allein aus logistischen Gründen konnte die FSLN die folgenden Monate nicht in die Offensive gehen. Die Waffen waren in Panama und mussten erst über Costa Rica wieder ins Land geschleust werden.
Dora María kehrte erst im Januar 1979 wieder nach Nicaragua zurück. Sie war damals gerade 23 Jahre alt und bereits drei Jahre im Untergrund. Spontane Aufstände in Masaya und anderen Städten lösten eine Dynamik aus, die den Sandinisten die Initiative aus der Hand nahm. Gleichzeitig versuchten die USA, die katholische Kirche und die bürgerliche Opposition den Diktator zum Abtreten zu bewegen, um einen „Somocismo ohne Somoza“ zu ermöglichen, also einen Fortbestand des Systems. Das wollte die FSLN auf keinen Fall. Dora María wurde in ihre Heimatstadt León geschickt, wo sie den Aufstand dirigieren sollte.
Als Somoza am 17. Juli 1979 nach Miami floh, platzte der Plan, das System zu retten. Die Nationalgarde, wichtigste Stütze der Diktatur und wegen ihrer Brutalität auch Ziel ungezählter Attacken aus der Bevölkerung, löste sich in wenigen Tagen selbst auf. Die sandinistische Führung, die sich bis dahin noch kaum den Kopf zerbrochen hatte, wie sie den revolutionären Staat organisieren sollte, wurde zur entscheidenden politischen Kraft. Dora María zog in den Staatsrat, eine Art ständestaatlich organisiertes Ersatzparlament, ein.
Nach den Wahlen 1984, die den De-facto-Zustand der Staatsorgane beendeten und eine Formalisierung der Institutionen einleiteten, übernahm Dora María Téllez, noch nicht 30 Jahre alt, das Gesundheitsressort. Dafür hatte sie sich durch ein abgebrochenes Medizinstudium an der Universität León qualifiziert. „Es war ein Organisationsproblem, eine Frage der richtigen Mittelverwendung“, meinte sie 20 Jahre später. Die Ärzteschaft maulte, denn die an eiserne Disziplin und Selbstausbeutung gewöhnte ehemalige Guerillera verlangte, dass auch Ärzte ihre Stechkarten markierten. Viele erledigten ihren Krankenhausjob nur nebenbei und holten die zahlungskräftigeren Patienten in ihre Privatpraxen. Das Argument, ein karges Gehalt rechtfertige auch keinen vollen Einsatz, ließ sie nicht gelten: „Meine Position war, wer für acht Stunden bezahlt wird, muss auch acht Stunden arbeiten.“
Diese Ethik legte die Ministerin zuallererst den eigenen Handlungen zugrunde. Als die Sandinisten im Februar 1990 überraschend die Wahlen verloren und die Regierungsgeschäfte an ein konservatives Team unter Violeta Barrios de Chamorro übergeben mussten, plünderten viele Funktionäre die Ministerien und Büros. Ausnahme war das Gesundheitsministerium, das vorbildlich und transparent übergeben wurde, wie der neue Minister Ernesto Salmerón zugeben musste.
Dora María Téllez unternahm mehrere fruchtlose Versuche, die vertikal aufgebaute Partei, in der Ortega sich als Dauervorsitzender immer wieder bestätigen ließ, von innen her zu erneuern. 1994 gab sie auf und gründete mit dem Romancier und ehemaligen Vizepräsidenten Sergio Ramírez die Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS), eine Partei, die sich als linke Kraft definiert und fast alle Künstler und Intellektuellen aus den Reihen der FSLN gewinnen konnte. Die Massenwirksamkeit blieb der neuen politischen Kraft versagt. Bei den Wahlen 2006 konnte sie gerade 5 von insgesamt 90 Sitzen in der Nationalversammlung erobern.
Auch diese wenigen Abgeordneten können der Regierung aber lästig fallen. Und bei der urbanen Bevölkerung von Managua bildet die MRS eine Bedrohung für die Vorherrschaft der Sandinisten. Das dürfte auch der Grund sein, warum der Oberste Wahlrat, der von Daniel Ortega gesteuert wird, im Juni die Aufhebung der Partei wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten in der Dokumentation verkündete. Auf die Berufung, bei der alle erforderlichen Dokumente beigebracht wurden, hat der Wahlrat in der vorgeschriebenen Frist nicht reagiert. Die MRS bleibt daher von den Kommunalwahlen im November ausgeschlossen.
Dora María Téllez ist Kummer gewöhnt. Als sie vor vier Jahren als Gastprofessorin für Lateinamerikanische Studien nach Harvard berufen wurde, musste sie absagen. In den USA wird sie noch immer auf einer Liste gefährlicher Terroristen geführt und erhielt daher kein Visum. Vielleicht wirft man ihr aber auch vor, dass sie nach allen Niederlagen und Enttäuschungen heute noch überzeugt ist, dass sich die Revolution gelohnt hat.
RALF LEONHARD, geboren in Wien, gelernter Jurist. War von 1982 bis 1996 als Reporter in Nicaragua, seit 1985 für die taz. Seit zwölf Jahren ist er unser Österreich-Korrespondent.
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