Tagebuch einer Fernsehleiche

Wie ist es eigentlich, wenn man im Krimi einen Toten spielt?

von ANTON JANY

Sanft ist die Berührung an meinem Bein, zart umschließen ihre Finger meinen rechten Knöchel. „34 Grad – lange ist er noch nicht tot“, höre ich sie mutmaßen, die Kommissarin. Sie kniet mir zu Füßen, und ich kann förmlich spüren, wie sie meine Wunde am Rücken mustert und zuhört, was der Spurensicherungsbeamte im weißen Overall zu berichten hat. Für einen Moment liege ich sozusagen im Mittelpunkt.

Ich bin tot, und es macht mir gar nichts aus. Zwei Messerstiche in den Rücken. Vor ein paar Augenblicken herrschte noch Hektik um mich herum, jetzt ist es fast ganz still. Zwei echte Leichenträger eines echten Bestattungsunternehmens haben mich in einem ungemütlichen Leichensack auf einer ungemütlichen Bahre hierher getragen oder, besser gesagt, geschaukelt. Eine kalte Kunststofffolie liegt auf meinem Gesicht. Ich höre Stimmen, Frauenstimmen. Eine Stimme, sanft und ruhig: eine Polizistin. Eine andere Stimme, herzzerreißend schluchzend: meine Frau. Und noch eine andere: meine Pflegemutter. Sie reden über mich. Ich sei tot, und das täte ihr Leid, sagt die freundliche Stimme der Kommissarin zu meiner Frau, die schließlich ein „O Gott!“ in die Welt hinaushaucht.

Der Job heißt „Leiche im ARD-‚Tatort‘ “. Es handelt sich um die Leiche eines jungen Mannes namens Wolfgang Reichert, den jemand auf einer Jacht am Bodensee gemeuchelt hat, von hinten, versteht sich. Aber ich habe es ja so gewollt. Eine Bierwette mit einem Freund gab den Impuls. Wer zuerst eine Leiche im Film spielt, hat gewonnen. Drei Wochen später war ich schon Wettsieger. Beim Südwestrundfunk, der gleich drei Kriminale ins ARD-Programm entsendet, wurde mein Ansinnen gehört. Die können auf eine Leiche gar nicht verzichten. Egal wer ermittelt, ein Toter liegt doch immer irgendwo herum, ob bei Lena Odenthal, bei Ernst Bienzle oder, so wie ich, bei Klara Blum alias Eva Mattes.

Mein Leben als Filmleiche beginnt mit der Ankunft im Hotel am Bodensee. Viel wird ja nicht erwartet von mir. „Nur tot sein – das reicht fürs Geld“, scherzt Produktionsleiter Gerhard Hoffmann, der mich in Empfang nimmt und gleich an die Kostümbildnerin übergibt. Mein Outfit aus dem Fundus des SWR, eine Uraltherrenhose von C & A und ein gelbes Poloshirt, „gelb, weil darauf das Blut später besser zu sehen ist“, verrät die Kollegin, die mich einkleidet. In der Hotellobby treffe ich auf meine ersten Schauspielerkollegen. Aber die beachten mich gar nicht. Transport zum Set, mit mir fährt Caroline Schreiber, im Film Bärbel Reichert, die Ehefrau des Mordopfers. Also meine Frau! „Hallo, ich bin die Leiche“, stelle ich mich vor und hoffe auf einen Lacher und schnellen Kollegenanschluss. Fehlanzeige. Außer einem kühlen „Ach, Sie sind mein Mann“, höre ich nichts mehr.

Ankunft am Set, wieder ein Hotel, ganz in der Hand des SWR. Am Eingang steht Klara Blum, nein, Eva Mattes, und wartet, aber nicht auf mich. Trotz meiner vorangegangener Erfahrung wage ich es erneut und grüße freundlich. Sie lächelt ein „Hallo“ zurück, und ich weiß, die wird meinen Tod aufklären, verdient hat sie es jedenfalls.

Nachtdreh, 22 Uhr, der erste Ruf nach der Leiche. Maskenbildner Kurt Zahel ist ein ganz alter Hase im Gewerbe, knapp eine halbe Stunde hat er sich vorgenommen für mich. „Eine meiner leichtesten Übungen“, sagt er, und nach ein paar Minuten erkenne ich mich im Spiegel fast selbst nicht mehr. „Jetzt probiere ich mal meine neueste Errungenschaft aus“, sagt der Kurt und präsentiert das Schminkset, speziell für Leichen im Film, mit allen erdenklichen widerlichen Farbtönen „Leichen haben fast alle irgendwelche Flecken“, sagt er und wählt Graugrün für die Augenpartie und Graurot für die Mundwinkel. Ich bin ja noch nicht so lange tot, Schlimmeres bleibt mir also erspart. Und Blut gibt’s heute auch noch keines. „Du schaust heute ja eh nur aus dem Leichensack heraus“, meint der Kurt gut informiert.

Nach ein paar Minuten bin ich fertig und uneingeschränkt der Star am Set – zumindest, was mein Make-up betrifft; beachtet werde ich von den Profischauspielern immer noch nicht. Draußen stehen meine wichtigsten Komparsenkollegen, die Herren im schwarzen Anzug, lässig ans Bestatterfahrzeug gelehnt, einen Becher Kaffee in der Hand. „Unsere Kundschaft kommt“, scherzt der eine, und wir sind im Gespräch. Die beiden berichten mir vom richtigen Leben, nein, vom richtigen Tod, und sie erzählen, wie sie heute erst zwei Frauen aus dem Altersheim und einen Mann aus dem Krankenhaus transportieren mussten. „Das Filmgeschäft ist eine schöne Abwechslung“, meint der eine.

Sein Kollege öffnet den Wagen, und erstmals wird mir etwas mulmig. Bahre, Kunststoffsarg und Plastikleichensäcke, alles, was so benötigt wird für den Job. In einen der Säcke, erfahre ich, werde ich mich später hineinlegen müssen. Ein dunkler Mehrwegtransportsack mit Reißverschluss. Der Witz des Bestatters, dass er damit den meisten seiner Kunden die Haare einklemmt, sich aber noch nie einer beschwert habe, kann mich im Moment nur bedingt aufheitern. Das Warten nervt zunehmend. Rund um uns herum Filmschaffende, alle ganz wichtig. „Nach der Mittagspause ist die Leiche dran“, bekomme ich mit, was sich um 23 Uhr durchaus komisch anhört.

Dann geht es los, Ablauf laut Drehbuch, Bild zehn: Die Leiche wird vorbeigetragen, und die Frauen müssen sie identifizieren. Noch bin ich Zuschauer in der zweiten Reihe, denn der Gang der Leichenträger wird in der Totalen ohne mich gedreht. Da bleibt der Sack zu, ist nur mit Füllmaterial ausgestopft. Wieder eine Stunde später, nach drei Proben und vier Durchgängen, ist die Szene im Kasten. Ich friere mittlerweile gewaltig. „Her mit der Leiche“, höre ich Richard Huber, den Regisseur, rufen, und Lampenfieber bricht bei mir aus. „Darf ich bitten“, scherzt ein Leichenträger, öffnet den dunklen Sack, und ich steige hinein. Als er den Reißverschluss zuzieht, sagt er gut gelaunt: „Die Frau, die wir heute Morgen drin hatten, war nicht mehr so gut drauf.“ Und meint noch: „Keine Angst, der Sack wurde nach dem Transport desinfiziert.“ Dann wird es dunkel um mich.

Zittere ich jetzt eigentlich vor Aufregung, oder ist es wegen der Seekälte, die in den Leichensack dringt? Und wie spielt man eigentlich eine Leiche? Welcher Gesichtsausdruck? Schmerzverzerrt, weil Messer im Rücken? Oder entspannt, weil von allem Irdischen erlöst? Mein Puls geht hoch, pocht am Hals. Und auch mein Atem geht schneller, fast wie beim Sport, dabei bewege ich mich gar nicht. Ich höre Stimmen, jemand nestelt am Reißverschluss. Luft holen, Atmung einstellen, Augen zu und durch. Toter Mann eben. Es dauert schier eine Ewigkeit, bis mein Gesicht freigelegt ist und ich mit geschlossenen Augen die Scheinwerfer wahrnehme. Und die Luft wird auch bald knapp. „Durchhalten“, schießt es durch meinen Kopf.

Über mir unterhalten sich Hinterbliebene und Kriminale, ich höre Eva Mattes heraus. Und während die noch miteinander reden, gehen meine Augen auf, ganz langsam, ich kann nichts dagegen tun. Je knapper die Luft wird, desto stärker drängen meine Augenlider nach oben. Die Leiche schaut von unten zu. Aber die über mir scheint es nicht zu stören. „Cut“, das Kommando erlöst mich, und ich darf wieder lebendig sein. Es geht wieder in Ausgangsposition. Ich muss an die alte Frau denken, die vor mir in diesem Sack gelegen haben soll. Auf ein Neues, vier-, fünfmal das Ganze, dann sitzt die Szene. Meine Atem- und Blinzelprobleme bekomme ich nicht in den Griff, aber es wird wohl gereicht haben. „Die kaufen wir“, sagt der Regisseur, und Klara Blum, nein, Eva Mattes, lächelt mich an, das Gesicht, das aus dem Leichensack blickt.

Die zweite Nacht, jetzt bin ich schon Profi mit wirklich großem Auftritt, wenn man das überhaupt fürs Rumliegen in Anspruch nehmen kann. Kurt Zahel lässt mich wieder sterben und zum schaurigen Gesichtsmake-up kommen noch die blutgeleerten Hände und eine umso blutigere Wunde am Rücken. Er nimmt sich Zeit, erzählt mir von seinen Studien im Leichenhaus und in der Pathologie – für mehr Realität im Film. Nach zwei Stunden Warten und Mittagessen bin ich um 23 Uhr wieder dran. Meine große Szene im Film: zwei Minuten dreißig Sekunden. Am Set heißt das drei Stunden Arbeit; und vor allem eines: warten. Fast eine Stunde vergeht, bis der Tatort, eine Jacht, vorbereitet und ausgeleuchtet, die Schauspieler mit Mikros bestückt und die besten Kamerastandpunkte für das Bild ausgewählt sind. Kurt Zahel legt noch einmal nach, und schließlich liege ich da, als Leiche, mit verwundertem Gesichtsausdruck.

Als um drei Uhr am Morgen die Scheinwerfer ausgehen am Tatort, bekomme ich doch noch mein Lob: Kameramann Jürgen Karle sagt, ich sei richtig gut gewesen als Leiche. Und Regisseur Richard Huber setzt sogar noch eins drauf: „Beim nächsten Mal darfst du vielleicht sogar sterben“ – wenn das keine guten Aussichten sind.

ANTON JANY, 44, lebt als Fernsehreporter, Autor, Filmproduzent und -macher im baden-württembergischen Sinzheim