: Hals in Eis
Gut gekühlt gewinnt Justine Henin bei den Australian Open ein Dreistundenmatch gegen Lindsay Davenport
MELBOURNE taz ■ Leicht verwundert sah Andre Agassi zu, wie Guillermo Coria erklärte, dass Schluss sei mit dieser Partie; es war im Achtelfinale der Australian Open, zu Beginn des Satzes Nummer zwei, als der Argentinier wegen einer Blase am Fuß aufgab. Womit Agassi ohne weitere Mühe im Viertelfinale landete und später bei der Frage, wie er sich in einer solchen Situation entschieden hätte: Aufhören oder Zähne zusammenbeißen und weiterspielen? „Nicht leicht“, sagte er, „aber es ist nun mal so, dass du gegen die starken Jungs so gut wie erledigt bist, wenn du nicht mehr vernünftig laufen kannst.“
Corias Fall ist nicht der einzige. Er war der neunte Spieler, der verletzt oder krank aufgab oder, so wie Marat Safin, gar nicht erst spielen konnte. Der Russe hatte sich im Spiel der ersten Runde bei einem Sturz einen Bänderanriss im linken Handgelenk zugezogen, hatte sein Spiel in Runde zwei mit schmerzstillender Spitze überstanden, doch vor der für Samstag geplanten Partie gegen Rainer Schüttler war die Schwellung zu stark und der Schmerz zu groß. So landete Schüttler ohne weitere Bemühungen im Achtelfinale gegen den Amerikaner James Blake, was ihn prinzipiell freute, aber natürlich nicht befriedigte. Uneingeschränkt positiv war dagegen in jedem Fall Schüttlers Bilanz, zu Beginn der zweiten Woche eines Grand-Slam-Turniers noch dabei zu sein, denn das hatte er zuvor in seiner Karriere erst einmal geschafft – vor zwei Jahren, ebenfalls in Melbourne.
In dieser Form ist Rainer Schüttler in Abwesenheit des an der Schulter operierten Thomas Haas und wohl auch Nicolas Kiefer (Fersenoperation) der Hoffnungsträger für die Davis-Cup-Partie in Buenos Aires gegen Argentinien in drei Wochen. Gestern nominierte der neue Kapitän Patrik Kühnen das Team, neben Schüttler werden in einer Woche Lars Burgsmüller, David Prinosil und Michael Kohlmann nach Sarasota (Florida) zur Vorbereitung reisen. „Unsere Aussichten in Buenos Aires sind sehr, sehr gering, aber mit Teamgeist haben wir die Chance auf eine Sensation.“
Eine Sensation erhofft sich Schüttler erst einmal in Melbourne, auf einen weiteren gegnerischen Krankheitsfall kann er dabei vermutlich nicht zählen. Damit nicht der Eindruck entsteht, bei den Männern führe jedes Wehwehchen gleich zur Aufgabe, schnell noch die Geschichte des tapferen Spaniers Felix Mantilla. Der hatte schon in den Runden eins bis drei jeweils fünf Sätze lang durchgehalten und gönnte sich dieses Vergnügen auch im vierten Versuch. Auch im Spiel gegen den Franzosen Sébastien Grosjean steckte er wieder jeden Rückstand weg, und erst mit dem allerletzten Punkt zum 6:3, 6:2, 3:6, 3:6, 3:6 gab er sich geschlagen. Grosjean wird nun der nächste Gegner von Agassi sein, und wer die Geschichte der bisherigen Spiele der beiden kennt, der weiß, dass da nur im äußersten Notfall mit einem vorzeitigen Ende zu rechnen ist.
Bei aller Wertschätzung für Mantillas Bemühungen – das Spiel des Wochenendes machten Justine Henin-Hardenne (so heißt die Belgierin seit ihrer Heirat) und Lindsay Davenport. Es dauerte drei Stunden und 13 Minuten, der letzte Satz allein eine Stunde und 19 Minuten, und viel besser, schöner, schwungvoller als in diesem Satz kann Frauentennis nicht sein. Ein Satz voller Elektrizität und am Schluss auch mit jenem Schuss Dramatik, der Spiele unvergesslich macht.
Im zweiten Durchgang hatte die 20-jährige Belgierin drei Chancen zum 5:1 vergeben, im dritten lag sie schon 1:4 und 3:5 zurück. Mit Krämpfen im linken Oberschenkel ging Henin-Hardenne nach einem Aufschlag beim Stand von 7:7 zu Boden, bis zum Hals mit Eis verpackt ließ sie die folgende Behandlung über sich ergehen, und mit dem letzten Rest von Willen, der noch in ihr steckte, rappelte sie sich wieder auf und kehrte zurück ins Spiel. Man sah ihr an, wie sehr sie kämpfen musste um ihre Chance, und als sie das Ganze ein paar Minuten später mit einem satten Return beim vierten Matchball zum 7:5, 5:7, 9:7 beendete, erhoben sich die Zuschauer beeindruckt von den Sitzen. Die erste halbe Stunde danach verbrachte sie wieder in Eis verpackt. „Ich dachte, ich muss sterben“, sagte sie, als es ihr dann besser ging, und fügte hinzu: „Ich kann Ihnen versichern, das Gefühl, ein solches Spiel nach mehr als drei Stunden gewonnen zu haben, ist einfach sensationell. Ich bin richtig stolz auf mich.“ DORIS HENKEL