: Deutsche Philologie
Wie antisemitisch war die Gruppe 47? Der Germanist Klaus Briegleb erforscht in seiner Studie „Missachtung und Tabu“ die Verdrängungsleistung der Nachkriegsliteratur
Als im Sommer 2002 der Streit um den „Tod des Kritikers“ von Martin Walser losbrach, da war etwas Seltsames zu beobachten. Wies jemand auf die antisemitischen Klischees in diesem Roman hin, wurde ihm knapp entgegengehalten: Das kann ich nicht sehen. Das gibt es da überhaupt nicht. Mit Antisemitismus hat das nichts zu tun.
Es waren keineswegs die üblichen Verdächtigen, die auf solche Weise reagierten, auch nicht Leute, die man als denkfaul kannte oder die wegen ihrer Unfähigkeit zu lesen Wahrnehmungsschwierigkeiten hatten. Es waren zuverlässig Vertraute darunter, die ansonsten durchaus empfindlich reagierten, wenn etwa ein Politiker sich gegenüber Juden oder in der Beurteilung israelischer Politik im Vokabular vergriff. Doch gegenüber Walsers Buch wurde der ahnungslose Gesichtsausdruck gepflegt. Und das nach der Rede in der Paulskirche, die Ignatz Bubis entsetzt hatte. Und das nach dem fürchterlich misslungenen Versöhnungsgespräch, das die FAZ mit dem Schriftsteller und dem inzwischen verstorbenen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden veranstaltet hatte.
Schaut man aber hin, woher die heftigsten Abwehrsprüche zugunsten Walsers kamen, so erkennt man, dass da Autoren und Kritiker sich äußerten, die zur Gruppe 47 seit ihren Anfängen gehörten. Jetzt hat der Germanist Klaus Briegleb, Herausgeber der Werke Heines, eine „Streitschrift“ publiziert: „Missachtung und Tabu“, in der er die Frage hin und her wendet: „Wie antisemitisch war die Gruppe 47“, also jene lose verbundene Schriftstellervereinigung, aus der immerhin zwei Literaturnobelpreisträger hervorgegangen sind: Heinrich Böll und Günter Grass.
Man möchte meinen, ein so umständlich geschriebenes Buch wie das von Briegleb ersticke bei jedem Leser alle Lust am Streit. Aber der Steit ist schon da. Die Frankfurter Rundschau wirft in ihrer Rezension dem Autor vor, nicht zu bedenken, dass die Schwierigkeiten, die Gruppenmitglieder „mit Juden und anderen Emigranten“ hatten, auch ein gelegentlich „reflexartiger Antisemitismus“ bei einigen von ihnen, nicht nur die 47er, sondern auch konservative Schriftsteller kennzeichnete. Wem ist das etwas Neues? Die Gereiztheit, aus der solche Ausflüchte kommen, beherrscht erst recht die Rezension der Hamburger Zeit – in den 60er-Jahren eine Art Zentralorgan der Gruppe 47. Da ist abschließend von einer „Ausgrenzungsrhetorik der Gerechten“ die Rede, die „nicht zuletzt der Befriedigung der Selbstgerechten“ diene.
Eine solche Rhetorik hätte vielleicht zu der Streitschrift geführt, die diesen Namen verdiente. Doch obwohl Briegleb gern polemisch formuliert – er nennt Walser hartnäckig einen „Unterhaltungsschriftsteller“ –, die Umständlichkeit seines Vortrags lässt eine Ahnung von Qualitäten, die einer Rhetorik entstammen, gar nicht erst aufkommen. Das freilich liegt auch an der Kompliziertheit des Gegenstands. Nach 1945 wollte kaum jemand noch Antisemit sein. Und Briegleb hat es mit Schriftstellern zu tun, die ihre Worte genau kalkuliert zu setzen wissen und die, was die Kenntnis von Wirkungen angeht, von allen Hunden gehetzt sind. Die 47er sahen sich politisch als Linke und wollten keinesfalls als Antisemiten erscheinen. Reicht das, um ihnen zu konzedieren, Antisemitisches sei ihnen fremd?
Eben nicht. Das ist der philologische Befund, zu dem Briegleb gekommen ist. Die Fassade stimmt, aber bei der Untersuchung der Verbindungslinien und Ritzen kommt zum Vorschein, was die Baumeister verdecken wollten, weil es aus dem Bau nicht zu entfernen war. Nicht zuerst darum, wie sehr die Gruppe 47 antisemitisch sei, ist die Frage, sondern auf welche Weise sich das, was man überwunden glaubte, doch und wieder zur Geltung brachte. „Wir reden“, schreibt Briegleb, „von dem Prozess der Abspaltung deutscher Selbsterinnerung von ihrer jüdisch-deutschen Gesamtgeschichte als dem zentralen antijüdischen Geschehen nach der Schoah, wofür die Gruppe 47 als Agentur in der Tat eine Primär-Verantwortung trägt.“
Anders gesagt: Die zumeist jungen Autoren, die dazugehörten, schrieben darüber, was ihnen und ihren Familien im Krieg und in der Nachkriegszeit widerfahren war. Dort suchten sie das schreckliche Erleben auf, daraufhin organisierten sie ihre Energien mit den Losungen: Nie wieder Faschismus, nie wieder ungehemmter Kapitalismus! Endlich eine Dominanz linker Kultur!
Was war schlecht daran? Nichts, könnte man sagen. Aber: Was die Juden in der Nazidiktatur, im Krieg erlebt hatten, wurde nahezu ausgeblendet. Eine Grundsatzdiskussion darüber fand nicht statt, weil Grundsatzdiskussionen die Geschlossenheit der Gruppe gefährdet hätten. Und die war Hans Werner Richter, dem inoffiziellen Chef, sehr wichtig, denn er glaubte als einen wichtigen Grund für die Katastrophe von 1933 erkannt zu heben, dass die rechten Intellektuellen über Korpsgeist verfügten, die linken aber nicht.
Hier auch, da setzt eine der Analysen Brieglebs an, liegt der Grund für die (trotz der Präsenz Wolfgang Hildesheimers) prekäre Rolle jüdischer Autoren und Kritiker in der Gruppe. „Gehörten sie“ – so die allzeit leitende Frage unter Kumpeln – „dazu?“ Die zurückgekehrten Emigranten offenbar nicht ohne weiteres. Waren sie nicht davongelaufen (so Richters Gedanke), gefährdeten sie nicht mit ihren Fragen den Zusammenhalt der Gruppe, deren Kraft zum Aufbruch? Weil sie eben Juden waren – diese Stimmung filtert Briegleb aus dem Verhalten der Hauptakteure heraus. Worum es dem Autor in dem eher mühsam zu lesenden Buch geht, das ist die Aufdeckung des Musters, nach dem hier Verdrängung, Herstellung von gutem Gewissen und „defensiver Aggressivität“ möglich wurde und funktionierte. Da gibt es verdeckte Rede und verdrehte Handlungsweise. Oft ist es nur eine Wendung, unbeabsichtigt im Text stehen geblieben, die als Hinweis genommen werden kann und muss, um auf das zu kommen, was die Akteure bewegte. Dann wieder springt aus einem erzählten Handlungsablauf eine Geste hervor, die das Unstimmige in Erzählung und erzähltem Ablauf erkennen lässt. Ein philologisches Problem: Wie überführt man einen Schriftsteller der Lüge, der sich selbst belügt? Und, verschärft: Wie entschlüsselt man, was mit Augurenlächeln den Wissenden verdeckt mitgeteilt wird?
Philologie war bei den Kritikern in der Gruppe 47 nicht beliebt. Es ist zu vermuten, dass ihre grau gewordenen Protagonisten die Philologie durch dieses Buch nicht lieber gewinnen werden. Das ist dann aber nicht die Schuld Brieglebs. Er hat getan, was Philologen seit mehr als 2.000 Jahren tun: Er hat historisch durchtränkte Texte dazu gebracht, dass sie mehr sagen, als ihre Autoren ihnen zu sagen aufgegeben hatten.
Diese Texte können sich nun selbst nicht mehr helfen. Dass einige ihrer Verfasser im Alter unvorsichtiger geworden sind, als sie es in ihrer Jugend waren, führt zu dem Streit, den auszutragen letztlich nicht Sache der Philologen ist, dessen Ursachen aber von ihnen ans Licht gebracht werden müssen.
JÜRGEN BUSCHE
Klaus Briegleb: „Missachtung und Tabu“. Philo Verlagsgesellschaft, Berlin 2003, 323 Seiten, 24,90 €