: Seichte Völkerfreundschaft
Unter dem Dach Europas und der Schirmherrschaft der USA kommen Deutsche und Franzosen gut miteinander aus. Die Frage ist nur, wie belastbar ihr Verhältnis ist
Die Franzosen und die Deutschen kommen gut miteinander aus, die Völker wie die Nationen. Und wenn den Regierungen gelegentlich Reibungen oder Unverständnis zugeschrieben werden, so sind diese entweder selbst inszeniert oder von den Medien aufgeblasen. Kein Konflikt geht tiefer als einen Viertelmeter. Und wenn er nicht gleich beigelegt werden kann, warten alle einfach ab, bis eine neue Konstellation auftaucht. Die politische Nichtentscheidung ist ohnehin der politische Modus in der Europäischen Gemeinschaft.
Dass die Völker Frankreich und Deutschlands so gut miteinander auskommen, verdankt sich vor allem ihrer fragwürdigen Modernität als Mediengesellschaften. Wenn Franzosen und Deutsche das andere Land besuchen, so tun sie das massenhaft. Sie haben füreinander von vornherein den touristischen Blick. Der richtet sich auf das Sehenswürdige, Patina-Behängte, Pittoreske, Veraltete.
Doch der touristische Blick der Nachbarvölker ist ein verdorbener Blick. In ihm liegt kein Bedürfnis nach genauerem Verstehen des Anderen; auch keine geschichtliche Erinnerung. In die Straßenfeste, die drüben wie hüben unaufhörlich aufgeführt werden, fügt man sich gern ein. Und wenn man zehnmal miteinander gelacht hat, ist das die schönste Völkerfreundschaft. Den von ihnen hoch geschätzten „Tatort“ sehen die Franzosen schon nicht mehr als ein Produkt aus Deutschland.
Franzosen und Deutsche konnten so schnell zueinander kommen und dabei so oberflächlich bleiben, weil darunter das fest gestrickte Interessennetz der Wirtschaftsgemeinschaft lag. Die Superverwaltungsstruktur Europäische Gemeinschaft war immer schon da oder wurde angestückt, wenn sich Neues regte und bürokratisch eingefangen werden musste. Von den unzähligen Vertragswerken, die dazu erforderlich waren, brauchten Deutsche und Franzosen ebenso wenig Kenntnis zu nehmen wie die übrigen Europäer. Die Élysée-Verträge haften nicht besser in ihrem historischen Gedächtnis als die Römer Verträge oder die Große Einheitliche Akte von 1985. Und dass die Maastricht-Verträge einmal die französische Nation fast zerrissen hatten, ist schon wieder halb vergessen. Die EU hat für die Europäer keine Geschichte, weil sie in dieser theatralischen Zeit keine Helden hat. Dabei waren die großen politischen Technokraten wie Jean Monnet und Jacques Delors für ihre Geschicke weit wichtiger als die meisten ihrer Staats- und Ministerpräsidenten.
Dass Deutsche und Franzosen ohne größere Reibungen zusammenkamen, verdankt sich nicht zuletzt dem großen interessierten Dritten: den USA. Für die Deutschen waren sie der Führer in die Demokratisierung, vor allem durch ihren Beistand zur Wohlstandsmehrung. Hätten Franzosen und Briten die demokratische Normalisierung der Deutschen betreiben müssen, es wäre nie etwas daraus geworden. Ihr kurzsichtiges und blamables Verhalten nach der Niederringung des Wilhelminischen Kaiserreichs hatte zu tiefe Narben hinterlassen.
Die universalistischen Ideen von Demokratie und Menschenrechten kamen zu den Deutschen, die soeben noch in einem ethnisch bornierten Imperialismus gefangen waren, hauptsächlich durch die Amerikaner. Das ist insofern bemerkenswert, als die deutschen Länder im 19. Jahrhundert ihre Verwaltungsdemokratie und ihre Staatsrationalität nach dem napoleonischen Muster eingerichtet hatten. Am Anfang der deutschen Modernität stand Napoleon. Aber der französische Universalismus der Republik und des Citoyen taugte nach 1945 nicht für die Deutschen.
Weil Amerika die atlantisch gesinnten Deutschen, die allen nationalen Ambitionen abgeschworen hatten, fest im Griff hatte, konnte es den noch immer lebhaften Ambitionen Frankreichs gelassen zusehen.
Die atomaren Souveränitätsgelüste und auch der zeitweilige Austritt aus der Nato schadeten kaum, da das Gleichgewicht der Abschreckung fest auf dem amerikanischen Pol stand. Auch Frankreich beugte sich unter die amerikanische Abschreckungsmacht. Frankreich brauchte für seine afrikanischen Bastionen den amerikanischen Schutzschirm. Und den Amerikanern war es recht, dass diese Bastionen von Frankreich gehalten wurden, Entkolonialisierung hin, Entkolonialisierung her. Wenn sich die französischen und die deutschen Wirtschaftsinteressen immer dichter ineinander schoben und damit den Kern des europäischen Blocks bildeten, so war das für die USA lange kein Anlass für Misstrauen. Hatten nicht die Regierungen Eisenhower, Kennedy, Johnson, Nixon und noch Reagen ein wirtschaftsstarkes Europa gewünscht? Das konnte einerseits die amerikanischen Kriegskassen etwas erleichtern, sollte andererseits politische Ausreißer, etwa Frankreichs, verhindern.
Das sollte sich mit den Neunzigerjahren ändern, als die USA die Last des einzigen Imperiums aufgeladen bekamen, sie auch wollten – aber nicht damit fertig wurden. Wenn überall in Europa die nationalen Souveränitäten verblassten, wenn sich die souveränen Staaten zu Marktstaaten wandelten, musste Amerika die Übersouveränität beanspruchen. Dabei hat es sich verschluckt. Und nun ist schon der Anfang vom Ende des amerikanischen Imperiums eingeläutet.
Amerika kann zwar einen Weltbürgerkrieg anzetteln und ist auch in bester Laune dazu, aber es kann nicht mehr in demokratischer Egalität die Welt integrieren. Darin aber bestehen Macht und Geheimnis des Imperiums. Rom hat es vorgemacht, indem nach und nach den den unterworfenen und befriedeten Regionen die Bürgerschaft verlieh und somit den Rechtsstaat begründete. Amerika aber ist zu schwach dazu. Schon seine Binnenintegration, vor allem der Schwarzen und der Latinos, lässt seit den Siebzigerjahren nach. Und nun behandelt es auch seine so genannten Bündnispartner der Nato mit zweierlei Maß. Die Balkan-„Feldzüge“ haben es zuerst gezeigt, in den Nahostkriegen bestätigt es sich. Nicht zuletzt: Wo heute die Demokratie vorankommt, vor allem in Osteuropa und in den Folgestaaten des sowjetischen Imperiums, Amerika wird dabei nicht mehr gebraucht. Der Ruin der Pax Americana, den Amerika jetzt selbst betreibt – nichts Neues in der Geschichte –, wird viele Trümmer hinterlassen, auch in Europa. Großbritannien wird das erste Opfer sein. Es kann nicht mit den Amerikanern siegen, wenn es dadurch von den europäischen Staaten isoliert wird. Es kann aber auch nicht mit den Amerikanern verlieren, ohne Verachtung zu ernten. Ein schwerer Schaden für Europa.
Die Harmonie der Franzosen und der Deutschen wurde noch nie ernsthaft auf die Probe gestellt. Sie erlaubte beiden viel Bequemlichkeit und weltpolitische Gleichgültigkeit. Wenn Amerika nun die Welt von Tag zu Tag unsicherer macht, nicht zuletzt die Weltwirtschaft, wird von dem noch stabilen Pfeiler Europa und dessen Kern Frankfreich/Deutschland bisher Ungewohntes gefordert werden: Nämlich gemeinsam eine Gegenmacht zu den USA aufzubauen.
CLAUS KOCH