fortschritt ist terror von HARTMUT EL KURDI
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Ich bin gegen Veränderungen. Hätte ich damals, im Mittelalter oder in der Antike oder wann immer das Fenster erfunden wurde, am entscheidenden Architektur-Konvent teilgenommen, ja, da hätte ich gesagt: „Okay, das sind ja alles ganz hübsche Ideen: Tageslicht im Zimmer, Lüften und in die Landschaft kucken können, aber letztlich ist das doch Firlefanz. Häuser sind dazu da, dass man nicht erfriert, und jedes Fenster, ob Einfachglas oder Thermopane, führt im Winter zu kaltem Luftzug, Ritzenterror, ergo zu Nackenversteifungen, Nasenkatarrh und Blasenentzündungen. Wollen wir das? Nein! Lasst uns beim Bewährten bleiben: Vier Wände, ein Dach und eine Tür zum rein- und rausgehen. Fertig ist die Laube!“ Und selbstverständlich hätte niemand auf mich gehört, denn entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil wollten schon immer alle Menschen nichts anderes als das eine: die permanente Veränderung. Echte Konservative wie mich gibt es selten.

Kürzlich blieb mir keine andere Wahl, als mein Zimmer sackschweren Herzens komplett umzuräumen, weil ich mir ein Klavier gekauft hatte und das ja nicht mitten in der Wohnlandschaft stehen bleiben konnte. Seitdem wache ich jede Nacht dreimal auf, weil es mir kalt an die Bronchien zieht – natürlich gab es für mein Bett keinen anderen Stellplatz als den direkt unterm Fenster. Aber das ist nicht das Schlimmste: Jedes Mal, wenn ich aufwache und das Licht anschalte, bin ich durch die neue Perspektive derart desorientiert, dass ich kurzzeitig denke, ich sei von Außerirdischen zwecks Rückenmarkspunktion oder Hodenschrumpfung entführt worden oder – noch schlimmer – läge wieder zu Hause in meinem Kinderzimmer und hätte morgen früh zur Ersten Mathe. Bei Herrn Wende. Dann muss ich schnell mein Musikantenknöchelchen gegen die Heizung hauen, damit ich ganz zu mir komme und mein neu organisiertes Zimmer wieder erkenne. Und dann bin ich traurig.

Ich kenne ansonsten nur eine Person, die noch konservativer ist als ich: Meine dreijährige Tochter, die sich offensichtlich, was Experimentierfreudigkeit und Innovationswillen im Alltag angeht, an „Rainman“ orientiert. Sie isst immer vom selben Teller, trinkt aus derselben Tasse, benutzt denselben Löffel und reagiert auf wiederkehrende Situationen mit Standardformulierungen. Ich verstehe sie. Aber ansonsten bin ich nur von blindem Aktionismus umgeben. Ständig werden Layouts geändert, Programmschemata „reformiert“ und Zeitschriften „relaunched“. Jetzt hat sich sogar Jürgen Trittin seine Spätsiebziger-K-Gruppen- Schenkelbürste abrasiert. Was soll das?

Apropos Grüne: Ein einziges mal hatte ich gehofft, dass eine Veränderung Positives bewirken könne. Ich hatte wirklich geglaubt, durch die Abwahl von Claudia Roth als Parteichefin würde die von ihr fortgesetzt und gewissenlos praktizierte mediale „Ton Steine Scherben“-Schändung ein Ende nehmen. Aber Pustekuchen: kürzlich sah ich sie im WDR-Fernsehen tatsächlich „Keine Macht für Niemand“ singen. Nee, nee, das hätte es früher nicht gegeben.