: Doch nicht so schlecht
Rainer Schüttler schlägt auch den Argentinier David Nalbandian und steht im Halbfinale der Australian Open, womit nun wirklich niemand gerechnet hat. Nun trifft er auf Andy Roddick
aus Melbourne DORIS HENKEL
Die Geschichte ist fast zu schön, um nicht erfunden zu sein. Als Dirk Hordorff, seinerzeit Leistungsreferent des Hessischen Tennisverbandes, den 14 Jahre alten Rainer Schüttler zum ersten Mal bei einem Jugendturnier spielen sah und ihn danach zur Hessenmeisterschaft einladen wollte, holte er sich einen Korb. Um zu dieser Meisterschaft zu kommen, hätte der Junior mit dem Zug aus dem heimischen Korbach nach Offenbach fahren müssen, aber das, teilte er mit, sei ihm zu anstrengend. Worauf Hordorff ganz spontan dachte: Das wird nix mit dem.
Ist doch was mit dem geworden. Aus dem ehemaligen Faulpelz wurde einer der fittesten Spieler in der Welt des Tennis, der heute vermutlich kein Problem damit hätte, die Strecke von Korbach nach Offenbach zu Fuß zurückzulegen. Das ist nicht neu, vor allem für Schüttler nicht, doch dass er wirklich in der Lage ist, bei einem der großen vier Turniere zu den Besten zu gehören, das erlebt er dieser Tage selbst mit einigem Staunen.
Nach dem überlegenen Sieg im Viertelfinale der Australian Open gegen David Nalbandian aus Argentinien (6:3, 5:7, 6:1, 6:0) ist Schüttler in eine exklusive Liga aufgestiegen. Er ist nun seit 1968 der fünfte deutsche Spieler im Halbfinale eines Grand-Slam-Turniers nach Haas, Becker, Stich und Karl Meiler, und man tritt ihm nicht zu nahe mit der Behauptung, damit habe beim besten Willen keiner gerechnet. Er selbst hat es ja auch nicht getan. Die Frage, wie er vor dem Turnier auf die Schlagzeile „Schüttler im Halbfinale von Melbourne“ reagiert hätte, beantwortete er sichtlich amüsiert: „Was für ein Spinner hat das denn geschrieben!“. Nun trifft er in eben diesem Halbfinale auf den Amerikaner Andy Roddick, der den Marokkaner Younes El Aynaoui in einem denkwürdigen Viertelfinale mit 4:6, 7:6 (7:5), 4:6, 6:4 und 21:19 geschlagen hat.
Selbst gute Wahrheiten sind manchmal nur schwer zu glauben, auch wenn sie klar und logisch sind. Nicht viel mehr als eine Viertelstunde lang bestand die Gefahr, dass er das Spiel gegen Nalbandian verlieren könnte. Es war jene Phase nach dem Verlust des zweiten Satzes mit drei Doppelfehlern im letzten Aufschlagspiel, worüber er sich mächtig ärgerte. Aber zum Glück nicht allzu lange; er hat gelernt, mit unvermeidlichen Frustattacken besser umzugehen. Als der andere dachte, nun endlich einen Zugriff auf die Partie zu haben, war Schüttler sofort wieder zur Stelle. In der restlichen Stunde bis zum Ende des Matches spielte er derart überlegen, dass sich Langeweile breit machte in der Rod Laver Arena.
Am Schluss hatte Nalbandian genug von allem, und diese Reaktion kam einem bekannt vor. Wie bei James Blake in der Runde vorher, bei Richard Krajicek und Albert Portas sah es so aus, als hätte er die Lust verloren – vom Auftritt des Argentiniers Gaston Gaudio gar nicht zu reden. Der war vor zwei Wochen beim Turnier in Sydney vom Schiedsrichter sogar wegen mangelndes Einsatzes verwarnt worden, und da stellt sich die Frage, was Schüttler mit seinen Gegnern anstellt auf dem Platz. Davis-Cup-Kapitän Patrik Kühnen sagt: „Rainer kocht sie alle weich. Wenn jeder Ball scharf zurückkommt, egal was du machst, dann hast du irgendwann genug.“
Nalbandian hatte genug. Welchen Effekt die Partie auf die Begegnung im Davis Cup in knapp zwei Wochen in Buenos Aires haben wird, wird man sehen. Der moralische Vorteil liegt zunächst bei Schüttler, obwohl der Argentinier trotzig versichert, beim nächsten Mal werde er nicht verlieren. Ganz bestimmt nicht.
Das Staunen über Schüttler lässt nicht nach, und irgendwie erinnert einen die Geschichte an den Weg des Schweden Thomas Johansson vor einem Jahr. Den hatte auch keiner auf der Rechnung, und am Ende stand er fassungslos da mit einem großen Pokal in der Hand. In Australien haben schon oft fleißige, engagierte Spieler gewonnen – Spieler, die die Winterpause gut genutzt haben und die es kaum erwarten konnten, endlich wieder Tennis zu spielen.
Schüttler ist so einer. Es ist kein Zufall, dass er den größten Erfolg seiner Karriere in Melbourne erlebt. Hier hat er schon vor zehn Jahren beim Juniorenturnier gern gespielt, und als er damals das Achtelfinale erreichte, da hat er gedacht: „Vielleicht bin ich ja gar nicht so schlecht.“
Da hatte er noch keine Ahnung, dass er Profi werden würde. Als er damals über seine Zukunft nachdachte, stellte er sich vor, nach dem Abitur zu studieren und später einen schönen, interessanten Job zu haben. „Jetzt“, sagt Rainer Schüttler, „habe ich einen schönen und interessanten Job.“