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Archiv-Artikel

Tibetische Kinder auf gefährlicher Flucht

Tibeter schicken ihre Kinder ins indische Exil, damit sie statt der chinesischen eine tibetische Schulbildung bekommen

Wer als Tibeter im Exil in Indien war, hat auf Chinas Arbeitsmarkt kaum eine Chance

DHARAMSALA taz ■ Die Frage nach seinem Namen und Alter beantwortet der elfjährige Tenzin stolz in perfektem Englisch. Alles Weitere übersetzt sein Betreuer aus dem tibetischen Kinderdorf, das mit dem Auto zehn Minuten von McLeod Ganj, dem Sitz des Dalai Lama und seiner Regierung im indischen Exilort Dharamsala, entfernt liegt.

Tenzin war acht Jahre alt, als ihn seine in Tibet lebenden Eltern in Lhasa an einen Fluchthelfer übergaben. „Der Mann sagte, wir würden eine lange Reise machen. Wir waren zehn Erwachsene und drei Kinder in der Gruppe. Ein Lastwagen brachte uns in die Berge. Dann mussten wir Tag und Nacht laufen und machten nur kurze Pausen. Wenn ich müde war, trug mich einer der Männer,“ erzählt Tenzin von seiner Flucht. „Es war Winter und sehr kalt. Meine Füße begannen zu schmerzen und wurden schwarz.“

Nach der Ankunft im Auffanglager in Kathmandu in Nepal mussten ihm beide Füße, die er sich auf dem zehntägigen Marsch erfroren hatte, je zur Hälfte amputiert werden. Tenzin wurde anschließend nach Neu Delhi in Indien gebracht und von dort weiter nach Dharamsala ins „Tibetan Children’s Village“. Hier wohnt er mit 30 Kindern aller Altersgruppen in einer der zahlreichen Kinderkommunen, der jeweils zwei Erzieher vorstehen.

Nicht wenige Kinder hatten im Massenexodus nach der Flucht des Dalai Lama 1959 ihre Eltern verloren und waren auf Hilfe von Angehörigen oder Bekannten angewiesen. Andere lebten in Arbeitercamps des indischen Straßenbaus, wo ihre Eltern eine erste Anstellung fanden. Ein Heim für tibetische Flüchtlingskinder, das Unterkunft, Verpflegung und Betreuung bis zu einem Alter von acht Jahren bot, sollte Abhilfe schaffen. Anschließend wurden die Kinder auf umliegende indische Schulen und Internate verteilt, deren Kapazitäten aber schnell erschöpft waren. Verschiedene Hilfsorganisationen leisteten Unterstützung, um das Kinderheim um Unterkünfte und eine Schule zu erweitern.

Heute gibt es in Indien zwölf Einrichtungen, die über 11.000 tibetische Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen betreuen. Waren es zu Anfang meist Kinder mittelloser Flüchtlinge oder Vollwaisen, kommen heute fast täglich neue hinzu, die wie Tenzin von ihren Eltern über den Himalaya ins Exil geschickt wurden. Die Eltern hoffen, dass ihre Sprösslinge in Indien die Ausbildung bekommen, die ihnen in Tibet verwehrt wird. Denn Chinas Bildungspolitik in Tibet zielt darauf, die tibetische Identität auszulöschen und den Bildungsstand unter Tibetern niedrig zu halten.

Die Befragung der Neuankömmlinge ergibt meist das gleiche Bild: Ein Großteil des Unterrichts wird von überwiegend chinesischen Lehrern auf Chinesisch abgehalten. Die tibetische Sprache wird nur unzureichend oder gar nicht gelehrt, tibetische Geschichte fehlt ebenso auf dem Lehrplan wie tibetische Kultur und Religion. Dafür bestehen die meisten Lehrbücher aus Lobeshymnen auf Mao Tse-tung, das „chinesische Mutterland“ und die „Befreiung Tibets von Feudalismus und Rückständigkeit“. Viele berichten von Benachteiligungen gegenüber chinesischen Schülern. Tibetische Eltern müssten häufig mehr Schulgeld zahlen als Chinesen, und die Zulassung zu weiterführenden Schulen hängt oft weniger von der Leistung als der Zahlung von Schmiergeld ab.

Morgens geht Tenzin zur Schule, nachmittags hat er Freizeit und übernimmt erste Pflichten im Haushalt. Jede Kinderdorfgruppe wohnt in einem eigenen Haus mit Küche, Aufenthalts- und Schlafräumen. „Die Älteren sind für die Jüngeren verantwortlich, jeder hat eine Aufgabe bei der Bewältigung des Familienalltags“, erklärt Tenzins Betreuer. „Das Ziel ist, sie zu verantwortlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen, mit klarem Verständnis für ihre tibetische Herkunft, Kultur und Identität.“ Der Unterricht ist breit gefächert. Viele besuchen anschließend indische Universitäten, um – so der Dalai Lama im Interview – „die Bedürfnisse in der tibetischen Exilgemeinschaft abzudecken und für die Zeit, wenn wir wieder in unser Heimatland zurückkehren“.

Tenzin möchte als Erwachsener nach Tibet zurückkehren, um seine Eltern wieder zu sehen, zu denen er momentan keinen Kontakt hat. Doch das ist riskant: Wer in Indien war, wird von Chinas Behörden meist argwöhnisch beobachtet, nicht selten verhaftet oder verhört. Bleibt nur, fern vom Heimatort unterzutauchen und sich mit einer Alibigeschichte zur eigenen Vergangenheit eine neue Existenz aufzubauen. Oder in Indien zu bleiben und zu hoffen, dass sich die Situation in Tibet ändert.

Pro Jahr flüchten zwei- bis dreitausend Tibeter nach Indien. Ein Drittel davon ist unter 14 Jahre alt. RÜDIGER-PHILIPP RACKWITZ