Trash und antike Überlieferung

„Wir sind die Griechen, die Kultur, man!“: Im Schauspiel Hannover glänzt Sebastian Nüblings Inszenierung von „Mamma Medea“ nach einem Text des belgischen Dichters Tom Lanoye mit scharfem Witz und hohem Tempo

Clash der Kulturen, wo ist der Fortschritt geblieben? Medea ist Barbarin, Jason ein Held der Antike. Medea verfügt über magisches Wissen und die Regeln des Mythos; Jason weiß, dass der Weg zum Königtum über das Bett der Königin-Tochter führt. Sie hält auf Formen, trägt ein glänzendes Ballkleid und redet im rhythmischen Maß von Versen: Ihre schön gebauten Sätze lassen ihre Gedanken wie einen geschliffenen Kristall sehen. Jason und seine Kumpane dagegen, die in Kolchos ölverschmiert wie die Heizer eines Schiffes ankommen, proleteln sich wie die Karikatur eines GIs durch das Bild: „Wir sind die Griechen, die Kultur, man!“

Die Kulturbringer aber, das ist von Anfang an klar in „Mamma Medea“, dessen deutschsprachige Erstaufführung Sebastian Nübling am Schauspielhaus Hannover inszeniert hat, sind erstens Männer, zweitens etwas beschränkt und ohne Medea völlig aufgeschmissen. Sie könnten ihr ebenso gut vom Rande des Fußballspiels Hannover 96 gegen den Hamburger SV zugeschickt worden sein wie aus einem der griechischen Stadtstaaten – das eine liegt der noch im Mythos beschlossenen Welt so fern wie das andere. Ohne Medeas Hilfe hätten sie keine Chance im Kampf gegen die Stiere des Aites, König von Kolchis und Vater Medeas, denn wie man Ungeheuer besiegt, wissen sie höchstens aus der Videothek.

Jason hat den Charme eines Tölpels. Man ist jedes Mal erleichtert, wenn er einen seiner Sätze wieder mit Hilfe der Kampfgefährten Telamon und Idas hinter sich gebracht hat. Warum Medea sich in ihn verliebt, ist eigentlich nicht zu verstehen und doch in der Logik der Bilder, die Sebastian Nübling und Muriel Gerstner (Bühnenbild und Kostüme) gebaut haben, ganz eindeutig – es ist sonst niemand da, in dieser streng konturierten Welt, der sie der Macht des Vaters wirklich entreißen könnte. Dass Jason dann wenig von seinen Versprechen hält, ahnt man gleich, aber dass es so schlimm kommt, dann doch nicht. Selbst seinen Freunden ist es schon peinlich.

Trash und antike Überlieferung, selten treffen sie so zündend aufeinander wie in dieser Bearbeitung des mythischen Stoffes durch den belgischen Dichter Tom Lanoye. Die Geschichte von Medea hat viele Lektüren erfahren, und das Programmheft zitiert mit Julia Kristeva, Christa Wolf und Elisabeth Bronfen gleich drei ihrer Anwältinnen, die nach der Vorgeschichte der Mörderin ihrer Kinder fragten. Lanoye und Nübling bilden nun eher die nächste Generation, die das feministische Denken beerben und durch den nächsten Filter schicken. Feminismus arbeitete sich am Mythos ab, Pop am Feminismus.

Das ist diskurstechnisch gesehen schon eine Leistung, die im Schauspiel Hannover noch dazu mit scharfem Witz und mit Tempo glänzt. Die Zeiten und Interpretationsschichten schieben sich sichtbar ineinander. Die Rückwand des Palastes aus Kolchos, aus dem Jason und Medea das Goldene Vlies rauben, fährt vor, und was eben noch die Vitrine für die Insignien der Macht war, wird zur Küchenzeile im trüben Heim von Medea und Jason in Korinth. Das Goldene Vlies, das Fell des Widders, ist nur noch ein Lumpen unter vielen in ihrem voll gemüllten Heim.

Medea hat allen Grund zur Rache und Wut: nicht nur weil sie als Fremde ausgewiesen werden soll und Jason sich eine neue Frau nimmt, sondern vor allem weil die neue Welt, die ihr als Abenteuer und Befreiung versprochen wurde, sich als unmöglicher Platz für den Hunger nach großen Gefühlen erweist. Ihre Rhetorik steht wie ein Monolith zwischen den kleinteiligen Sprachangriffen der modernen Griechen, die aus Handbüchern der Konfliktlösung und Soaps über den Ehekrieg zusammengesucht sind. Sie ist die Einzige, die auf dem dreibeinigen Stuhl in dieser verwahrlosten Wohnung mit Beherrschung sitzen kann und nicht fluchend zusammenkracht.

Dieser ständige Zusammenstoß von Slapstick und Tragödie hält in Atem. Die jungen Schauspieler – Anne Ratte-Polle als Medea, Isabelle Menke und Katharina Lorenz als ihre Geschwister, Clemens Schick als Jason und Tim Porath und Peter Knaack als Argonauten – bilden auf einer weiteren Ebene eine Wohngemeinschaft, die Ebbe in der Haushaltskasse mehr aufregt als Dramen von Euripides. Aber obwohl die Gefahr nahe liegt, werden die Figuren nicht an die Gags verraten. Deshalb bleibt es spannend bis zum monströsen Ende, das dann doch anders kommt, als man zu wissen glaubte.

KATRIN BETTINA MÜLLER