: Die stille Reserve
Am 22. Oktober will sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Vertretern der Länder in Dresden zum „Bildungsgipfel“ treffen. Ein Ausweg aus der deutschen Bildungsmisere? Oder reine Symbolpolitik? Die Autoren der taz beschreiben in einer sechsteiligen Serie, wo die Probleme auf der Baustelle Bildung liegen. Vergangene Woche hat der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann die hohe Zahl von 80.000 Schulabbrechern pro Jahr kritisiert und die Politik aufgefordert, die Hauptschulen abzuschaffen. Viele Leser haben uns geschrieben und sind mit ihm einer Meinung, darunter auch eine Hauptschullehrerin aus Niedersachsen. Sie merkte aber auch an: „Es reicht nicht aus, einfach mal eben alle zusammenzupacken.“ Gemeint sind die Schüler, nicht die Politiker. TAZ
VON ANNA LEHMANN
Zum Abschluss der zehnten Klasse hat ihm die Lehrerin einen Blumenstrauß überreicht. „Weil ich nie gefehlt habe“. Hasim Timur lächelt stolz. Vier Jahre ist es her, dass er mit dem erweiterten Hauptschulabschluss und Blumen die Schule verließ. Mittlerweile ist Timur 22. Einen Beruf hat er nicht. Auf die Schule folgten Bewerbungen, ein einjähriger berufsvorbereitender Lehrgang im Bereich Holz und Metall und die Arbeit im Imbiss des Vaters. Der Imbiss ist inzwischen pleite. Das Arbeitsamt hat Timur im Mai eine zweite Maßnahme angeboten – Sprachunterricht und Praktikum in einem Paket. Die Maßnahme soll ihm helfen, doch noch eine Lehrstelle zu bekommen. Ob das klappt?
So wie Timur geht es vielen. Nur zwei von fünf Hauptschulabsolventen finden gleich nach der Schule einen Ausbildungsplatz in einem Betrieb. So steht es im zweiten nationalen Bildungsbericht, den die Kultusminister im Sommer vorstellten. Selbst zwei Jahre nach dem Abschluss sucht immer noch jeder zweite Hauptschulabsolvent einen Ausbildungsplatz. Das duale System – die klassische Ausbildung in Betrieb und Berufsschule – büße eine seiner großen Stärken ein, schreiben die Autoren: „Jugendliche mit geringerem Bildungsniveau durch Ausbildung beruflich zu integrieren.“
Neben der dualen Ausbildung wächst daher ein Parallelsystem, ein Auffangbecken für all jene, die erfolglos Bewerbungen schreiben. Eine halbe Million Jugendlicher ist 2006 in dieses Übergangssystem umgeleitet worden – fast so viele, wie eine Ausbildung begonnen haben. Sie holen Schulabschlüsse nach, besuchen berufsvorbereitende Kurse und absolvieren sogenannte Einstiegspraktika. Oft reihen sie Maßnahme an Maßnahme, ohne voranzukommen.
Bis August hat die Bundesagentur schon 236 Millionen Euro allein für berufsvorbereitende Kurse ausgegeben. Insgesamt kostet das Übergangssystem den Staat zwischen 4 und 6 Milliarden Euro, wie die Grünen vorrechnen. Dabei boomt der Ausbildungsmarkt. Mehr als 640.000 Lehrstellen haben Unternehmen in diesem Jahr angeboten, nur in den Aufschwungjahren nach der Wiedervereinigung waren es mehr. Zum September meldeten die Unternehmen noch mehr als 70.000 unbesetzte Ausbildungsplätze.
Offene Lehrstellen auf der einen Seite und abgewiesene Jugendliche auf der anderen? Das sei kein Widerspruch, sagt Ilona Mirtschin von der Bundesagentur für Arbeit. „Wer im Übergangssystem ist, ist noch nicht ausbildungsreif.“ Übersetzt heißt das: Er oder sie kommt für eine Ausbildung nicht infrage, weil notwendige Fähigkeiten fehlen. Wer ausbildungsreif ist, das legt ein 64-seitiger Kriterienkatalog fest, den Wirtschaft und Politik zusammen erarbeitet haben. Die Schulabgänger müssen demnach die deutsche Sprache genauso sicher beherrschen wie den Dreisatz. Sie müssen pünktlich sein und auch in der sechsten Stunde noch konzentriert arbeiten können. Schulabgängern würden diese elementaren Fähigkeiten immer öfter fehlen, beklagen Unternehmen – und verschweigen dabei, dass sie bis 2003 kräftig Lehrstellen abgebaut haben und die Konkurrenz auf dem Ausbildungsmarkt zu Ungunsten der niedrigeren Abschlüsse angeheizt haben.
Forscher des Deutschen Jugendinstituts (DJI) befragen seit vier Jahren Hauptschüler über ihren Verbleib nach der Schule. Gut die Hälfte derjenigen, die im Übergangssystem landen, sieht diesen Weg als Notlösung. Nach einem Jahr in einer Maßnahme nimmt nur ein gutes Drittel der Absolventen eine Ausbildung auf, ein weiteres knappes Drittel dreht noch eine Runde in der Warteschleife. Nach jeder Runde steigt ein Teil der Jugendlichen ganz aus. „Diejenigen, die ihre Ausbildung oder Berufsvorbereitung einmal abbrechen, finden selten den Weg zurück“, warnt Studienautorin Tilly Lex. Die Gruppe jener, die als Ungelernte jobben oder von Hartz IV leben, ist drei Jahre nach dem Schulabschluss auf 18 Prozent eines Jahrgangs angewachsen.
„Was erwartet Deutschland von euch?“ – „Dass wir arbeiten und Steuern zahlen.“ Genau. Der Mann, der die Frage gestellt hat, nickt zufrieden. Eberhard Klingbeil könnte man sich auch als Conferencier auf der Bühne eines kleinen Varietétheaters vorstellen. Vor der Wende hat er DDR-Schüler in Geschichte, Kunsterziehung und Deutsch unterrichtet. Seit zwei Jahren gibt er Grundkenntnisse in Grammatik und Landeskunde an Jugendliche ohne Ausbildung weiter. Sein Arbeitgeber: die Deutsche Angestellten Akademie, eine von zahllosen Berufsbildungseinrichtungen.
Eberhard Klingbeils Kurs in Berlin richtet sich an Migranten. Zwei Drittel der Jugendlichen im Übergangssystem sind nichtdeutscher Herkunft: Kurden wie Hasim und sein älterer Bruder Kadir, Russlanddeutsche wie Dimitri, Bulgaren wie Denis. „Man muss eine Affinität zu diesen Jugendlichen haben, sonst schafft man diese Arbeit nicht“, sagt Klingbeil. Er mag seine Arbeit.
Die Atmosphäre im Raum ist ruhig und konzentriert. Klingbeil lobt die Teilnehmer für ihren Einsatz im Praktikum. „Ihr seid gut motiviert“, feuert er sie an. Er sieht seine Aufgabe vor allem darin, den Jugendlichen Ziele aufzuzeigen, sie aufzubauen. „Die meisten gleiten so dahin im Leben“, sagt er. „Sie haben ein schlechtes Selbstwertgefühl und viel Ablehnung erfahren.“
Abir Hareb hatte irgendwann keinen Bock mehr auf Schule. Den erweiterten Hauptschulabschluss hat die Libanesin im letzten Jahr dennoch gemacht. Als Klingbeil sie nach Wortarten fragt, zählt sie flüssig auf: Substantive, Pronomen, Adverbien, Adjektive – kein Problem. Auch die Bundesländer und die Landeshauptstädte sitzen. Sie dachte, dass es klappen könnte mit einer Ausbildung zur Verkäuferin. Bei Rossmann, Schlecker, Drospa, überall hat sie angefragt. Etwa zehn Bewerbungen pro Woche hat sie geschrieben. Zum Vorstellungsgespräch wurde sie nie eingeladen. Nun macht sie den Kurs bei Klingbeil und ein Begleitpraktikum in der Pizzeria ihres Bruders. Verkäuferin will sie immer noch werden. Dass sich ihre Chancen in den letzten sechs Monaten beträchtlich verbessert haben, glaubt Abir Hareb aber nicht.
Die Autoren des Bildungsberichts teilen diese Zweifel. „Da zum Teil mehrere Maßnahmen nacheinander besucht werden und die Verläufe von Jugendlichen mit und ohne Hauptschulabschluss deutlich ungünstiger sind, stellt sich die Frage nach der Effektivität und Effizienz des Systems“, heißt es im Bericht.
Tilly Lex vom Deutschen Jugendinstitut meint, dass bildungsschwächere Jugendliche sehr wohl profitierten. Gleichzeitig gebe es Anzeichen, dass Leute einfach zwischengeparkt würden, jene mit einem Realschulabschluss oder eben dem qualifizierten Hauptschulabschluss. „Für die, das ergeben unsere Analysen, ist die Berufsvorbereitung eindeutig eher negativ“, sagt Lex.
Bereits vor vier Jahren hat die Bundesregierung das Übergangssystem deshalb schneller gemacht. Statt einjährigen Kursen für viele erstellen die Betreuer der Arbeitsagenturen für jeden Jugendlichen einen eigenen Förderplan, der sich aus verschiedenen Bausteinen zusammensetzt. Die begleitenden Forschungen werden erst im November ausgewertet. Ein Problem zeichnet sich jedoch bereits ab: Die einzelnen Bausteine werden nicht auf eine spätere Ausbildung angerechnet. Die Kurse sind nur Aufwärmübungen, bis die eigentliche Lehre beginnt. Das Bildungsministerium überlegt deshalb, die Maßnahmen als Teil der Ausbildung anzuerkennen.
Gleichzeitig sollen die Unternehmen geködert werden. Sie sollen jene, die länger als ein Jahr auf einen Ausbildungsplatz warten, als Lehrlinge einstellen. Über 300.000 sogenannte Altbewerber sind in der Statistik der Bundesagentur registriert. Mit einem Ausbildungsbonus zwischen 6.000 bis 8.000 Euro pro Kopf sollen Zehntausende zusätzlicher Ausbildungsplätze für sie entstehen, hofft die Bundesregierung.
450 Millionen Euro sind dafür in den nächsten drei Jahren im Haushalt der Arbeitsagentur geblockt. Die Wirtschaft selbst ist skeptisch. Der deutsche Industrie- und Handelskammertag warnt vor Mitnahmeeffekten, sieht aber kaum zusätzliche Ausbildungsplätze.
Dass die Zahl der Altbewerber in diesem Jahr dennoch um fast 80.000 gesunken ist, sei weniger auf das größere Lehrstellenangebot als auf den demografischen Knick zurückzuführen, sagt Gerd Ulrich vom Bundesinstitut für Berufsbildung. Allein im Osten gebe es in diesem Jahr 40.000 weniger Schulabgänger als im Vorjahr. Altbewerber hätten nicht mehr so starke Konkurrenz. „Dieser Effekt wird im nächsten und übernächsten Jahr noch zunehmen“, prognostiziert Ulrich. Gleichzeitig sei der absehbare Mangel an Fachkräften eine gute Triebfeder, sich verstärkt jenen schätzungsweise 10 Prozent eines Altersjahrgangs zuzuwenden, die keine Berufsausbildung haben. „Wir bekommen so wenige Jugendliche, dass wir diese stille Reserve brauchen.“
Die Stadt Iserlohn hat sich deshalb mit regionalen Unternehmen zusammengetan. Sie garantiert jedem Hauptschüler eine Lehrstelle. Zu Beginn des Schuljahres haben die ersten 250 Achtklässler einen Vertrag unterschrieben. Iserlohn besorgt ihnen einen Ausbildungsplatz, dafür müssen sich die Jugendlichen verpflichten, alle Hilfen und Fördermaßnahmen wahrzunehmen. Das Projekt kostet jährlich 600.000 Euro, davon bezahlt die Stadt etwa ein Drittel.
„Wenn man hochrechnet, was es kostet, wenn jemand scheitert“, sagt Wolfgang Kolbe, Leiter der Schulverwaltung, „kommen wir damit sehr gut weg.“