: „Jurassic Park“ auf Titiwu
Die „Augsburger Puppenkiste“ gibt es seit 50 Jahren, das Urmel seit 34. Ein Grund zu feiern ist das nicht
Das Urmel ist bedroht. Noch bevor es das Licht der Welt erblickt, sozusagen ab ovo. Denn das Ei, in dem es schläft, steckt in einem Eisberg und wurde jahrmillionenlang nicht ausgebrütet – bis dieser Eisberg an den Strand der Insel Titiwu gespült wird, wo sich der zerstreute Professor Habakuk Tibatong und seine sprechenden Tiere um den Fund kümmern. Kaum hat die freundliche Schweinedame Wutz das Ei ausgebrütet, will ein böser König das Baby-Urviech schon als Trophäe erlegen …
Gelegt hat das Ei ein gewisser Max Kruse. 1969 publizierte der damals schon erfolgreiche Kinderbuchautor die erste Geschichte von „Urmel aus dem Eis“, illustriert von Erich Hölle. In schneller Folge veröffentlichte das Duo acht weitere Abenteuer, die ihnen inzwischen eine Millionenauflage beschert haben – von „Urmel fliegt ins All“ über „Urmel taucht ins Meer“ bis zu „Urmel wird ein Star“.
Dass es tatsächlich zum Star wurde, hat das Urmel indes der „Augsburger Puppenkiste“ zu verdanken. Schon 1969 verfilmte der Hessische Rundfunk, immer auf der Suche nach Stoffen für sein Marionettentheater, Kruses Geschichte. Seitdem hängt Urmel an Fäden und ist aus dem Personal der Puppenkiste nicht mehr wegzudenken. Und die Geschichte der Puppenkiste ist fast so spannend wie die des Urmel.
Der Soldat Walter Oehmichen entdeckt 1940 in einer Schule bei Calais ein kleines Puppenspiel, mit dem er seine Kameraden unterhält. Aus der Idee, mit einem mobilen „Theater in der Kiste“ allzeit bereit zu sein, resultiert nach dem Krieg die „Augsburger Puppenkiste“. Am 26. Februar 1948 hat „Der gestiefelte Kater“ Premiere, schon im Janaur 1953 wird die erste Fernsehproduktion („Peter und der Wolf“) vom NWDR ausgestrahlt. Live.
Walter Oehmichen und sein Kompagnon Manfred Jenning ziehen bis in die späten Siebzigerjahre die Strippen und prägen den Charme der Sendungen. Verstaubt, ohne behäbig zu wirken. Lehrreich, ohne belehrend zu sein.
Über ein halbes Jahrhundert erwiesen sich Charaktere wie das Urmel, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, der kleine König Kalle Wirsch oder das Sams als kompatibel mit immer neuen Generationen junger Fernsehzuschauer. Vor allem das Urmel bietet sich noch heute als ideale Identifikationsfigur für die Allerkleinsten an: Es ist relativ frisch auf Erden und doch schon immer irgendwie da gewesen, seit Urzeiten. Es ist schrankenlos naiv und wird von seinen illustren Bezugspersonen (wie etwa dem unübertroffen kummervollen Seeelefanten) bedingungslos geliebt und gegen das Böse (die Krabbe!) in Schutz genommen. Sprechen lernt es auch, kommt aber über ein kindliches Lispeln nicht hinaus. Es trägt seine Kindheit lebenslang mit sich herum – wie sein italienisches Pendant Calimero seine Eierschalen.
Obwohl sich das „Urmel aus dem Eis“ zuletzt als Hörbuch (mit Dirk Bach als Sprecher) sehr vital gab, wird es doch erstmals ernsthaft bedroht. Von veränderten Sehgewohnheiten, die von antiquierten Hilfsmitteln wie Fäden nichts wissen wollen. Von den Teletubbies, die eine noch jüngere Zielgruppe in ihren Bann schlagen. Und von den ratlosen Machern der „Augsburger Puppenkiste“, die ihre charmanten Puppen auf Biegen und Brechen im Kino etablieren wollen. Das Urmel ist bedroht. Aber das war es ja schon immer.
ARNO FRANK