: Protest und Polemik
Zum Schluss schlägt in Porto Alegre die Stunde der Promis: Venezuelas Präsident Chávez verspricht die Tobin-Steuer
aus Porto Alegre GERHARD DILGER
Eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Noch nie in seiner dreijährigen Geschichte war das Weltsozialforum so stark von einem Thema und einer Person geprägt: George W. Bush und der drohende Irakkrieg spielten in den meisten Foren und auf allen Kundgebungen die dominierende Rolle. Und der brasilianische Präsident Lula war eigentlich dauernd präsent – sei es persönlich, sei es via Videoleinwand aus Davos oder auf unzähligen Stickern, Mützen, T-Shirts, Taschenkalendern oder Feuerzeugen.
Zum Thema Irakkrieg erarbeiteten israelische und palästinensische Friedensaktivisten gemeinsam einen „Brief von Porto Alegre“ – einen schnörkellosen Appell für ein „Ende der Gewalt auf beiden Seiten“ und für Verhandlungen, für den Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten und die Gründung eines Palästinenserstaates. Als die Israelin Galia Golan den Brief zum Abschluss des Forums vor 20.000 Zuhörern verlas, fassten sich die Menschen bei den Händen. Die jüngsten Attacken der israelischen Armee auf Gaza hatten der aufgeheizten Anti-Israel-Stimmung in Porto Alegre zusätzliche Nahrung gegeben, das Dokument kam deswegen erst in letzter Minute zustande.
Für den Bostoner Linguisten Noam Chomsky, einen der Stars des Forums, ist der Krieg mehr als eine Bedrohung für den Irak und die arabischen Staaten. Vielmehr seien die USA unter Präsident George W. Bush zu einer „Bedrohung für sich und die gesamte Menschheit geworden“, so Chomsky. Hinter der „Konstruktion eines Feindes, der angeblich zu einem Völkermord bereit“ sei, verberge sich der „amerikanische imperialistische Ehrgeiz, sich mit Gewalt durchzusetzen.“ Trotz dieser im September angezettelten Angstkampagne sei die Friedensbewegung in den USA auf ein bisher „ungekanntes Niveau angewachsen.“ Chomsky sagte in einer überfüllten Sporthalle in Porto Alegre: „Ein Krieg gegen den Irak wird eine neue Generation von Terroristen hervorbringen und den Rüstungswettlauf beschleunigen.“ Nach seiner Analyse übergab er das Wort an die indische Schrifstellerin Arundhati Roy, die das Publikum mit purer Polemik in Rage versetzte.
Absoluter Höhepunkt des Weltsozialforums war der Lula-Besuch in Porto Alegre, zu dem rund 80.000 Menschen kamen. Weitere zigtausend blieben im „Lula-Stau“ stecken und mussten sich den Auftritt ihres Präsidenten abends im Fernsehen anschauen.
Lulas anschließende Fahrt zum Weltwirtschaftsforum führte zu heftigen Debatten – schließlich definiert sich das Weltsozialforum bewusst als Gegenpol zu Davos, wo sich die „Herren des Universums“ versammeln, wie Chomsky es ausdrückt. Für die Menschen in Porto Alegre ist klar, dass Davos an Bedeutung verliert – eine Einschätzung, die mittleweile auch viele internationale Medien teilen. „Während Porto Alegre von Jahr zu Jahr größer wird und immer mehr Optimismus und Energie versprüht, versinkt Davos in Verzweiflung“, sagte Chomsky.
Im Nachhinein dürfte allerdings auch den Gegnern von Lulas Besuch in Davos klar werden: Mit diesem Schritt erhielt das Forum eine internationale Aufmerksamkeit wie nie zuvor. In Porto Alegre spricht man in diesem Zusammenhang nur noch vom „Faktor Lula“.
Auf Rang zwei der Promi-Liste kam der venezolanische Präsident Hugo Chávez. Der umstrittene Staatsmann war kurzfristig nach Porto Alegre geflogen, um sich von seinen Fans die Seele streicheln zu lassen. Zu Hause hat er es zurzeit schwer. In seinem Land halten die Massenproteste und Streiks nun bereits neun Wochen an. In Porto Alegre erklärten sich viele lateinamerikanische Organisationen solidarisch mit „Cha-Cha-Chávez“. Sie interpretieren den Streik im Sinne des Präsidenten: als Verschwörung der Opposition mit Unterstützung des ausländischen Kapitals gegen ihn.
Um wie Lula ein bisschen internationale Aufmerksamkeit zu erzielen und wohl auch, um mit der Bewegung anzubandeln, überraschte Chávez in Porto Alegre mit einer erfreulichen Nachricht: Sein Land will die Tobin-Steuer einführen. Diese Steuer auf Währungsgeschäfte gehört zu den elementaren Forderungen des Weltsozialforums.
Chávez griff sich in Porto Alegre denn auch gleich die Tobin-Experten: Bruno Jetin von Attac Frankreich und ein weiterer Fachmann wurden kurzerhand zu seinen Regierungsberatern ernannt und flogen noch am Sonntag auf Einladung des Präsidenten nach Caracas. Bernard Cassen, Gründungsmitglied von Attac Frankreich, bestätigte dies gestern. Über Einzelheiten ist allerdings nichts bekannt. Chávez hatte nur gesagt: „Ich will Devisenkontrollen einführen, so eine Art Tobin-Steuer.“
Hintergrund für den unerwarteten Schritt: Venezuelas Dollarreserven sind in den letzten zwei Monaten um drei Milliarden gesunken. Seit Beginn des Streiks hat die heimische Währung 30 Prozent ihres Wertes gegenüber dem Dollar verloren. In Porto Alegre wurde die Nachricht von Chávez’ Plan mit einer Mischung aus Freude und Zweifel aufgenommen – Zweifel darüber, ob sich die Tobin-Steuer im Alleingang durchführen lässt, aber auch über die Zukunft des Präsidenten, der auf einem wackeligen Thron sitzt.
Trotz einiger Schwierigkeiten der Organisatoren, die 100.000 Teilnehmer des Forums in den jeweils richtigen der 1.300 Workshops zu schicken, fällt das Fazit der meisten Globalisierungskritiker positiv aus. „Für mich war es eine exzellente Gelegenheit, mich mit anderen Weltbankkritikern kurzzuschließen“, resümiert etwa Johan Frijns von „Friends of the Earth International“. Jens Marten, der für den deutschen Entwicklungsverband Weed nach Porto Alegre gekommen ist, berichtet, er habe sich mit Menschen aus Ländern getroffen, wo Globalisierungskritiker umgebracht werden, wenn sie zum Beispiel gegen Privatisierung sind. „Wir dagegen sitzen zu Hause doch relativ komfortabel am Schreibtisch. Mein Fazit: Wir sollten konfrontativer werden!“ Und für den Marburger Soziologen Dieter Boris ist Porto Alegre „einfach nur eine Riesentankstelle für politische Energie“.