: „Das sah so freundlich aus“
Heute vor 70 Jahren wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt. Mit Fackeln zogen tausende Anhänger durch das Brandenburger Tor. Zwei Zeitzeugen erinnern sich an das, was sie sahen – und hörten
von PHILIPP GESSLER
Ein Strand an der Ostsee, Helga spielt im Sand mit einem Ball. Eine Fahrt mit dem Zug. Es schüttet. Am Bahnhof wartet eine Pferdekutsche. Helga hat keinen Regenmantel, zieht sich stattdessen einen Bademantel über. Der 30. Geburtstag ihres Vaters, 1932. Helga ist fünf Jahre, wundert sich über das Alter ihres Papas: „Oh, ist der jetzt alt!“
Erste Erinnerungen von Helga Skoecz. Heute ist sie 75 Jahre alt und sitzt auf dem beigefarbenen Sofa ihrer Dreizimmerwohnung in Lankwitz. Sie erinnert sich. Da ist noch ein dritte Erlebnis, vor genau 70 Jahren in Berlin, an diesem elenden 30. Januar 1933:
„Wir sind nun herübergegangen aus dem Zimmer, in dem wir den Herrn Reichspräsidenten sehen konnten, in das Zimmer, in dem sich der neue Reichskanzler Adof Hitler befindet. Wir stehen am offenen Fenster. Wir können nun besonders gut hören, wie die Menge jubelt. Wir lassen hier noch einen Augenblick die Musik von außen ins Fenster hereinschallen.“ (Das Deutschlandlied ist zu hören, Marschmusik.)
Die berühmte Radioreportage dieses Tages im Reichsrundfunk hört die knapp sechsjährige Helga damals nicht, sie ist dabei. Sie weiß nicht, wer dieser Adolf Hitler ist, der an diesem Tag vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wird. Aber sie erinnert sich an diesen Abend. Ihr Vater, ein Unternehmen im Papiergroßhandel, kommt abends nach Hause und verkündet: „Wir fahren mal in die Stadt, den Fackelzug anschauen.“ Helga ist aufgeregt: Abends noch mal raus! „Es war die Ausnahme.“ Sie sieht die Fackeln von 25.000 Hitleranhängern in Uniform.
SA- und „Stahlhelm“-Einheiten marschieren vom Tiergarten durch das Brandenburger Tor. Der Zug schwenkt in die Wilhelmstraße, vorbei an der Reichskanzlei. Die Bannmeile im Regierungsviertel ist aufgehoben, Schaulustige säumen den Straßenrand. In einem Fenster der Reichskanzlei steht Hitler, nervös tänzelnd. In einem anderen Fenster ist Hindenburg zu erkennen. Er schlägt mit dem Stock den Takt zur Musik der Marschkapellen. Helga faszinieren „die Fackeln, die alles andere überstrahlten“. Die Studenten, die als Letzte im Zug marschieren, findet sie „richtig schick“: „Junge Männer.“ Ganz entzückt ist sie von ihren seidenen Schärpen: „Das sah alles so freundlich aus.“
„Wir werfen einen Blick in das Arbeitszimmer Adolf Hitlers. Im hellen Licht steht er am Fenster, der Blick hinaus auf die vorbeimarschierende SA, die ungeheueren Menschenmassen, die ihm zujubeln. Bei ihm steht der bisherige Reichstagspräsident, der Minister Göring. Bei ihm steht Minister Frick. Ein dauernder Jubel dringt herauf.“
Der Reichstagsabgeordnete, NSDAP-Gauleiter von Berlin-Brandenburg und spätere „Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda“, Joseph Goebbels, hat – trotz Protests der Verantwortlichen – durchgesetzt, dass der Rundfunk die Kundgebung live überträgt. Helga ahnt von alldem nichts. Ihr Vater, sagt sie, sei unpolitisch gewesen, kein Nazi, aber deutsch-national. Sie erinnert sich an die Trauer ihrer Eltern, als Hindenburg 1934 stirbt.
Helga Skoecz war Augenzeuge eines geschichtlichen Moments – doch es dauert lange, bis sie diesem Erlebnis eine besondere Bedeutung beimisst. „Den Tag hätte es besser nicht gegeben“, sagt sie heute, „aber man kann ihn nicht rückgängig machen.“ Drei ihrer vier Kusins sind in Hitlers Krieg gefallen, ihr späterer Mann Reinhold erlitt schwere Verwundungen. Er erzählt einen Witz, den er damals gehört hat: Zwei Jungen spielen auf der Straße und stellen mit Pferdeäpfeln die marschierenden SA-Reihen nach. Ein Passant fragt, wo denn hier der Führer sei. „Den können wir nicht aufstellen“, sagt einer der Jungs, „so’n Haufen Scheiße haben wir nicht gefunden.“
Helga Skoecz lacht, sie macht einen zufriedenen Eindruck. Seit 50 Jahren wohnt sie mit ihrem Mann in Lankwitz, die goldene Hochzeit haben sie schon gefeiert. Zwei Töchter haben die beiden großgezogen – nach 1945 war das Leben ruhig. Reinhold Skoecz engagiert sich in der „Zeitzeugenbörse“. Man müsse verhindern, „dass die junge Generation wieder in so etwas hineinstolpert“, sagte Helga Skoecz, „die Rechten“ dürften nie mehr Fuß fassen. Man müsse klar machen, „wie schrecklich Krieg ist – immer wieder“.
„Kein Spießerleben“
Wolf Rothe sitzt in seinem Wohnzimmer – es ist zugleich ein Archiv mit verstaubten Filmprojektoren auf den Schränken, alten Filmpostern an den Wänden und Videokassetten, Fernbedienungen und welligen Fotos auf Sesseln, Regalen und Ablagen. „Ich sammle alles“, sagt der 79-Jährige und lacht knallig. Er erinnert sich an den 30. Januar 1933. Rothe war nicht am Brandenburger Tor, aber er erinnert sich an seine Großeltern, wie sie im Radio von der so genannten Machtergreifung Hitlers erfuhren.
„Adolf Hitler steht mit todernstem Gesicht am Fenster. Er ist eben von seiner Arbeit herausgerissen, keine Spur von irgendwelcher Siegesstimmung oder dergleichen. Eine ernste Arbeitsstimmung, die auf seinem Gesicht liegt. Er ist nur unterbrochen worden, und doch leuchtet es in seinen Augen über dieses erwachende Deutschland, über diese Masse von Menschen aus allen Ständen, aus allen Schichten der Bevölkerung, die hier vorbeimarschieren. Arbeiter der Stirn und der Faust. Alle Klassenunterschiede sind verwischt. Es ist ein Bild, wie es vielleicht einmal gewesen sein mag 1813. So erheben wir uns jetzt hier auch. Das Große ist, dass wir einen geschichtlichen Moment, über dessen Bedeutung wir uns heute vielleicht noch gar nicht klar sind, in diesem Augenblick durch den Rundfunk miterleben.“
Die Zeitzeugen zur Nazizeit sterben aus – „sie sind entweder tot oder meschugge“, wie Rothe heute sagt. An die Stelle der Erzählung rückt ein Medium wie die Radiosendung, die er damals hörte. Der neunjährige Wolf lebt bei seinen Großeltern in Spandau, als die Nazis an die Macht kommen. Er ist politisch interessiert, bastelt sich mit Klassenkameraden Pseudoparteiabzeichen – je nach politischer Couleur. Seines ist schwarz-rot-gold. Das ist gefährlich, schon damals.
Die Großeltern hören mit ihm im Radio von dem Triumph Hitlers. Sie sind gegen das Regime. Sein Opa, der zweite Mann seiner Oma, ist Jude. Rothe erinnert sich an die Angst seiner Großeltern. Sie kriegen Anrufe von Freunden: „Man war entsetzt.“
Wolfs Papa ist weit, er versorgt Luxusliner mit frischen Blumen, kommt nur alle vier Wochen nach Hause. Heute nennt Rothe seinen Vater „ein angepasstes Arschloch“. Die Familie seines Vaters ist regimenah. Da stört der jüdische Großvater, der früher einmal so viel Geld hatte. Rothes Vater schmeißt seinen Schwiegervater aus der Wohnung, per Einschreibebrief. „Er hat ihn plötzlich wieder gesiezt.“
Wolfs jüdischer Großvater hat im Ersten Weltkrieg gekämpft. Das schützt ihn zunächst. Nach der Pogromnacht vom November 1938 aber wird er ins KZ Buchenwald verschleppt. Als er nach sechs Wochen völlig abgemagert nach Hause zurückkehrt, erkennt ihn seine eigene Frau nicht mehr: „Was wollen Sie bitte?“, fragt sie ihn an der Haustür. Ein paar Jahre später, 1943, stirbt der Großvater an den Folgen der Lagerhaft. Seine Mutter erstellt nach dem Krieg eine Liste von jüdischen Freunden, die im KZ umgekommen sind. „Die Liste habe ich noch“, sagt Rothe. 120 Namen seien darauf.
Der Diktator, der an diesem Tag vor 70 Jahren an die Macht kam, schickt auch Rothe in den Krieg. Von 1942 bis zum Ende dient Rothe, verliert 1944 einen Arm. „Die Deutschen haben Hitler nach 1945 nicht verflucht, weil er den Krieg begonnen, sondern weil er ihn verloren hat“, sagt er bitter. Rothe stand in den letzten Kriegstagen vor dem Brandenburger Tor, wo zwölf Jahre vorher alles begonnen hatte: Man habe versucht, das Tor mit Möbelwagen zu einer Sperre gegen die anstürmende Sowjetarmee zu machen. Rothe lacht. Bald wird dies niemand mehr aus eigener Anschauung wissen. Sein „Stalingrad-Jahrgang“, wie er es nennt, wird vergangen sein: „Wir stehen noch unter Naturschutz.“ Sein Leben nach dem Krieg findet Rothe kaum einen Satz wert. „Man hat gelebt“, sagt er, „das ist die Hauptsache.“ Immerhin habe er „kein Spießerleben gehabt“, meint er noch er kurz vor dem Abschied. Rothe lacht.