: Teile von schönen Frauen
Der Filmkritiker Michael Althen hat ein Buch geschrieben: „Warte, bis es dunkel ist. Eine Liebeserklärung ans Kino“. Er besingt darin die eigene Cinemanie, die Lippen Michelle Pfeiffers und versäumt dabei leider zu fragen, warum er das tut
von MANFRED HERMES
Was ist Kino? Ein dunkler Raum, den man betritt, ein Sessel, in den man sich setzt, eine weiße Wand, die sich in etwas übermenschlich Intensives verwandelt und zur Identifikation und einer besonderen Form des Eintauchens verleitet. Für den Filmkritiker Michael Althen ist das Kino alles das, und es ist noch mehr: eine Lebensweise und das Modell für eine schönere, gerechtere und aufregendere Existenz, eine Freude, die nie versiegt, und eine Sehnsucht, die nicht zu stillen ist.
Althens Buch „Warte, bis es dunkel ist“ versammelt keine Filmkritiken, sondern Materialien zu „einer Liebeserklärung ans Kino“. In knapp dreißig Kapiteln werden kleine Beobachtungen, Informationen und Anekdoten als Medienautobiografie zusammengetragen. Ein Filmkritiker Jahrgang 1962 hat den Traum vom Kino zuerst vor dem Fernseher geträumt. In den Siebzigerjahren konnte der Kino-Glamour den Medienwechsel noch mühelos passieren, und so kam dann eines zum anderen. Inzwischen steht Althen auf dem festen Grund eines kanonisierten Wissens über Filme, Regisseure, Darsteller und vor allem über Darstellerinnen. Sein Buch wird dadurch zum Ritt durch Territorien, die zwischen Tom Cruise und „Deep Throat“, „Blow Up“ und Snuff Movies, zwischen dem Filmglanz von Paris und dem traurigen Ende von Jean Seberg liegen.
In einer sympathischen Passage beschreibt Althen, wie er seine frühe Filmleidenschaft mit dem Anfertigen diverser Listen zu bewältigen versuchte. Diesen Wunsch nach Bürokratie, Einteilung und Vollständigkeit, der einerseits noch am Faden eines Bildungsgedankens hängt, sich als Sammel- und Reinziehtrieb aber auch schon anal davongemacht hat, kann ich gut verstehen. Das ist aber schon nicht mehr so, wenn Althen beschreibt, wie winzigste Ereignisse, ein Kratzer auf der Emulsion, eine bezaubernde Bewegung Empfindungen größten, reinsten oder seltsamsten Glücks auslösen. Nicht dass man derartige Gefühle verspotten müsste – hier aber werden sie klar durch eine Inflation des Emotionalen und der überdimensionierten Begriffe entwertet. Keine Buchseite, die ohne Magie, Faszination, Schönheit und Liebe auskäme – um sich dann aber doch immer wieder mit dem ganz Handfesten zu verdrillen. Denn im Kino, das weiß man, „geht es immer nur um das eine“. Zum Beispiel um die berühmten schönen Dinge, die schöne Frauen oder Teile von ihnen tun. Über Michelle Pfeiffer heißt es daher: „Ihre Lippen sind geradezu die Wunde, durch die unsere Träume in ihren Körper eintreten.“
Nun können auch Sprachbilder, die im Autopilot der Schreibroutine entstanden, ziemlich danebenliegen. In diesem Fall kommt hinzu, dass selbst solche bedenklichen Aussagen durch dauernde Wirs, Unseres und Mans verallgemeinert werden. Wer ist damit aber gemeint? Wir Kinder von Nouvelle Vague und Helmut Kohl? Die kleine verschworene Truppe, die wir uns „das Kino neu erfinden“? Vielleicht ist dieses Wir das Überbleibsel einer snobistischen Ansprache, die im jugendlichen Journalismus der Achtzigerjahre eine gewisse Rolle spielte, auf den Filmbereich übertragen aber zum betulichen Einschluss wird: wir mit den gleichen Kenntnissen, Einschätzungen und Rezeptionsweisen. Oder einfach nur: wir, die wir uns trotz langjähriger Ehe unsere Michelle Pfeiffer und die Jugendträume nicht nehmen lassen.
Wenn es um „Subjektismus und Filmkritik“ geht, dann lohnt sich ein Verweis auf Serge Daney. Auch für ihn war die Fixierung auf regressive Kinospektakel eine köstliche Realität und die Vorbedingung des Berufs. Er glaubte aber nicht, sich auf seine Cinemanie etwas einbilden zu müssen, sondern begriff sie als Reflex einer konkreten historischen Situation. Er empfand sich selbst als Zwischen- oder Folgegeneration und auch sonst als Fleisch gewordene Krise. Als er ihr Chefredakteur wurde, waren die Cahiers du cinéma bereits geheiligt, Hitchcock zum Richard Wagner der Gegenwart erklärt und die Universität gerade dabei, die intellektuellen Teile des Filmdiskurses zu übernehmen. Gewisse Kämpfe und Methoden hatten sich erledigt. Ein Versuch des Ausbruchs sollte die Beschäftigung mit dem Fernsehen sein (den er später für gescheitert erklärte), ein anderer bestand in der Zuspitzung eines subjektivistischen Schreibens und Sprechens über Film. So konnte sich immerhin ein Materialismus erneuern – durch das Anerkennen seiner sehr kleinbürgerlichen Herkunft und einer konkret beschreibbaren Sexualität.
Obwohl auch Althen mit Mitteln des Autobiografischen arbeitet, ist er an der Beleuchtung der eigenen Voreinstellungen nicht im Geringsten interessiert. Seine Selbstdarstellungswünsche enden da, wo sie sich nicht mehr sentimental oder als Beleg einer besonderen Sensibilität und Gewissenhaftigkeit nutzen lassen. Das macht gerade die Darstellungen seiner persönlichen Verhältnisse so gespenstisch, und das nicht nur, weil er Selbstbeschreibungen gerne in Passivformen steckt. Althens Sprache erzeugt eine Atmosphäre von eigenartiger Verrenktheit. Sie ist sakral, aber jugendlich, populistisch, aber lauter, unironisch und humorig. Da scheinen sich Ansprüche und Haltungen zu mischen, deren Unvereinbarkeiten im Dunkeln bleiben.
Wie Kontexte Effekte hervorbringen, hätte Althen dabei ganz gut anhand seiner eigenen Schreibbiografie zeigen können. Der in seinem Buch praktizierte Softrock geschlechtlicher Orthodoxie, zur Schau gestellter Emotionalität und cineastischer Unschuld erinnert mich sehr an seine Texte aus SZ-Zeiten. Das Stahlbad des FAZ-Feuilletons schien diese Haltung weggeläutert zu haben. In einer ironischen Verkehrung hat sich nun gerade dort aber die Energie gesammelt für dieses spätromantische „Warte, bis es dunkel ist“.
Ein tagesaktueller Filmjournalismus hat vielleicht oft keine andere Wahl als betulich, unhistorisch und regressiv zu werden. Im Rahmen eines Buches muss ein „Diskurs der Liebe“ aber nicht so harmlos bleiben. In diesem Fall wurde er zu einer Streckbank, die die eigenen blinden Flecken weit aufreißt und mit einem Ästhetizismus füllt, für den das Kino ein geschlossenes System ist, das zur kollektiven Ansicht nur freigibt, worin sich ohnehin jeder suhlen will.
Michael Althen: „Warte, bis es dunkel ist. Eine Liebeserklärung ans Kino“. Karl Blessing Verlag, München 2002, 256 S., 21,90 €