: Ein kaltes, schmutziges Weiß
Goebbels wollte ein Heldenepos: Die Niederlage von Stalingrad sollte sich als Untergang der Nibelungen darstellen. Frontmaler zeichneten ein anderes, nicht minder mythenbewehrtes Bild
von ANDRÉ MEIER
Es ist der 23. Januar 1943. Ein junger Major, mit dem letzten Flugzeug aus dem Kessel von Stalingrad ausgeflogen, ist zum Rapport ins Führerhauptquartier geladen. In der Wolfsschanze trifft er auf Joseph Goebbels, der dem erschütternden Bericht des völlig ausgezehrten Offiziers über das qualvolle Hungern und Sterben gebannt folgt. Doch nicht als Propagandaminister des Reiches, nicht als ein für die Katastrophe an der Wolga verantwortlicher NS-Spitzenfunktionär. Nein, Goebbels verdrängt das Reale des Moments völlig. In Hitlers Befehlsstand sitzend, wird der Minister vom Regieassistenten zum Zuschauer eines Stücks, dessen Dramaturgie sich scheinbar jeder und erst recht seiner Einflussnahme entzieht. Und so klingen Goebbels’ Tagebuchnotizen über dieses Treffen dann auch nicht wie die Niederschrift eines politischen Akteurs, sondern wie die Schwärmereien eines kulturbeflissenen Logenplatzabonnenten: „Reihenweise sitzen sie in den Bunkern, verhungern und erfrieren. Ein Bild von wahrhaft antiker Größe. Die Worte fehlen, dieses Heldendrama zu schildern.“
Der kriegsdienstverwendungsunfähige Goebbels, promovierter Germanist und Dichter, transzendiert hier die furchtbare Wirklichkeit des Kessels ins Mythische und gibt damit – gut zehn Tage vor der Kapitulation der letzten Reste der 6. Armee – die Lesart vor, mit der die Heimatfront die Niederlage an der Wolga aufzunehmen habe. Am 30. Januar 1943 konkretisiert Hermann Göring die heroischen Muster, mit denen die sich abzeichnende Pleite von Stalingrad aufzuwerten sei. Plural, denn der Reichsluftfahrtminister hat gleich zwei mythische Verweismöglichkeiten im Angebot. Zum einen den Untergang der Nibelungen, die, von der nach Rache sinnenden Kriemhild in die Etzelburg geladen, im blutigen Gemetzel der Übermacht der Hunnen erliegen. Zum anderen den Opfergang König Leonidas’ und seiner 300 Helden aus Sparta, die sich zur Rettung Griechenlands 480 vor Christi im Thermophylenpass 20.000 Persern entgegenstellen. Görings Rede, vom Rundfunk übertragen, ist auch im klirrenden Frost Stalingrads zu hören. Die Männer, die sie dort noch vernehmen können, werden zu Ohrenzeugen ihrer eigenen, prämortalen Abschiebung in das großdeutsche Walhalla.
Am 3. Februar schließlich ist die Niederlage amtlich. Das Propagandaministerium vergattert die Presse, „aus dem Opfer der Männer von Stalingrad ein Heldenepos zu machen“. Auch die Diktion ist vorgeschrieben: „keine Worte der Trauer“ und „ohne Phrasen und Sentimentalitäten, sondern in männlicher, harter und nationalsozialistischer Sprache“.
Ganze acht Tage haben die Leitartikler und Feuilletonisten Zeit, wie es in der Tagesparole des Reichspressechefs heißt, „Stalingrad zum Mythos zu machen, der allen kommenden Generationen unseres Volkes Kraft geben und Verpflichtung sein wird“. Dann, am 11. Februar 1943, kommt die lapidare Anweisung, fortan sämtliche Veröffentlichungen zum Thema zu unterlassen. Die Realität, die inzwischen über ausländische Sender auch in die deutschen Wohnstuben drängt, hat der Heldensaga das Fundament entzogen. Generalfeldmarshall Paulus, von dem Goebbels am 2. Februar 43 noch glaubte, dass ihm die Wahl, „entweder 15 oder 20 Jahre länger zu leben oder ein mehrtausendjähriges ewiges Leben in unverwelklichem Ruhm zu gewinnen“, leicht fallen würde, hatte den Suizid verweigert und die Reste seiner Armee in russische Gefangenschaft geführt. Stalingrad war damit nicht nur als realer, sondern auch als mythischer Ort in Feindeshand.
Als Ernst Jünger im Februar 1943 von der Kaukasusfront in das von den Deutschen okkupierte Frankreich zurückkehrte, konnte er den Namen der Wolgastadt bereits als mit Kreide geschriebene Widerstandsparole an Pariser Häuserwänden lesen.
Vier Monate nach diesem Desaster wird in München die Große Deutsche Kunstausstellung eröffnet. Und obgleich Stalingrad noch immer auf dem Index steht, wird die verlorene Schlacht hier erneut zum Thema. Es ist die erste dieser seit 1937 alljährlich im Haus der deutschen Kunst stattfindenden Überblicksausstellungen, die im Schatten unübersehbarer militärischer Rückschläge steht. Hitler hat sich inzwischen nahezu völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Auch in München, wo er in den vorangegangenen Ausstellungen gern in Öl als genialer Feldherr sinnend in die Weite blickte, taucht er nun nur noch in einem kleinen Seitenraum als popelige Führerbüste auf. Der Krieg ist jetzt, da sich die Verlustmeldungen aneinander reihen, selbst in der Kunst wieder das traurige Geschäft des einfachen Landsers.
Pflichtgetreu porträtiert man zwar weiterhin all jene, die sich durch lebensmüden Eifer in dem großen Abschlachten hervortun. Doch jenseits der goldgerahmten Ritterkreuzträger mit und ohne Brillanten regiert, daran lassen schon die Bildtitel keinen Zweifel, statt Siegerpathos die Tristesse: „Zerstörte Häuser mit Kühen“, „Panzerstellungswechsel“, „Abwehr“, „Der verwundete Grenadier“ oder „Dem gefallenen Kameraden“.
Programmatisch stellt der in einer Startauflage von 100.000 Exemplaren gedruckte Katalog der Münchener Schau so wohl nicht zufällig seinem Abbildungsteil Franz Eichhorsts „Erinnerung an Stalingrad“ voran. Eichhorst ist einer von schätzungsweise 200 „Künstlern im Kriegseinsatz“, die, über alle Frontabschnitte verstreut, kämpfenden Einheiten zugeteilt werden, um im Auftrag der Wehrmacht deren vermeintliche Ruhmestaten für Heimat und Nachwelt zu konservieren. 1943 sind sie nur noch die Chronisten eines unaufhaltsamen Untergangs.
Eichhorst, bereits im Ersten Weltkrieg Soldat und Frontmaler, verziert Mitte der 30er-Jahre den Sitzungssaal des Rathauses Berlin-Schöneberg mit einer gigantischen, heute vermutlich noch immer hinter Verkleidungen verborgenen Freskenfolge. In durchaus überzeugender malerischer Manier feiert er darin die nationalsozialistische Machtergreifung als Erfüllung alter Frontkämpfer- und Freikorpsträume. Nach Kriegsbeginn wird Eichhorst als Maler an die Ostfront kommandiert und landet schließlich in Stalingrad. Ende November, einen Tag bevor sich der Kessel endgültig schließt, fliegt man den schwer erkrankten Künstler aus.
Das Bild, das Eichhorst als Quintessenz dieses traumatischen Frontaufenthalts in München präsentiert, zeigt fünf blutjunge Wehrmachtssoldaten in einer unwirtlichen Ruinenlandschaft. Bar jeden Kommandos, verwundet und ermattet, stehen, liegen oder kauern sie in Erwartung des finalen Schlags eines unsichtbaren Feindes. Sicher, verglichen mit jenen jammervollen Gestalten, die im Februar 43 halbverhungert und -erfroren in endlosen Kolonnen in russische Gefangenschaft marschieren, sind Eichhorsts Männer noch immer von properer Statur. Müssen sie auch, denn was hier, wie in vielen anderen Werken der späten NS-Kriegsmalerei leise anklingt, wird in Nachkriegsdeutschland zum ehernen Topos: Nicht das Prinzip soldatischer Tugenden, nicht der gemeine Landser ist in Stalingrad gescheitert, sondern einzig dessen von jeder militärischen Vernunft verlassene Führung. So moralisch rehabilitiert, konnten schon bald nach Kriegsende die Veteranen von Stalingrad wieder an die Waffen und Kartentische gerufen werden, um in beiden Teilen Deutschlands ihr vertrautes Handwerk für anscheinend neue, honorablere Ziele auszuüben.
Während Film, Memorial- und Trivialliteratur bei der Reaktivierung der alten Kader und der Zementierung des Mythos von der „Verratenen Armee“ brav attestierten, wurde für die Kunst das Thema zum Tabu. Jedenfalls im Westen. Die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus erschöpfte sich dort schnell darin, die von ihm favorisierte Gegenständlichkeit als der Freiheit wie der Demokratie abträgliche Kunstform zu geißeln. Selbst vormalige Frontmaler, wie der Münchener Ruprecht Geiger, suchten nun ihr Heil in der Abstraktion.
Aber auch im Osten, wo routinierte Kriegsmaler wie der Geraer Rudolf G. Werner ohne formale Umorientierung jetzt den sozialistischen Aufbau glorifizieren durften, ließ die Auseinandersetzung mit Stalingrad lange auf sich warten. Kein Wunder, stand man doch offiziell auf der Seite der Sieger. SED-Chef Ulbricht selbst lag an der Wolga und forderte die im Kessel Eingeschlossenen über russische Mikrofone vergeblich zum Überlaufen auf. Volk und Führung trennte also ein grundsätzlich unterschiedlicher Erfahrungshorizont. Um die Kluft zu kitten, schuf man hier die Mär von den unschuldig Verführten, deren Läuterung mit Stalingrad begann und ihren Abschluss nur mit dem Bekenntnis zum SED-Staat finden konnte. So wie es Generalfeldmarschall Paulus vorexerzierte, als er 1953 aus russischer Gefangenschaft in den Osten Deutschlands zurückkehrte.
Dieses Motiv der Umkehr wird zu einer der beiden Standardfloskeln in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Kriegsthema. Die andere präsentiert Willi Sitte 1961 mit seinem dreiteiligen Werk „Memento Stalingrad“. Ausgehend von zwei dürren, im Schnee liegenden Soldatenleichen müht er sich zu zeigen, dass der Schoß noch fruchtbar ist, aus dem das frostige Grauen kroch. Denn gleich darüber sinnt ein feister, glatzköpfiger Bundeswehrgeneral über eine Zweitauflage des Russlandfeldzuges nach, während zu seiner Linken ein kriegserfahrener Arbeiter seinen neuerlichen Einberufungsbefehl in den Händen hält. Die letzte Schlacht, so will es Sittes schlichte Botschaft, ist noch immer nicht geschlagen. Für den Maler tobt sie bis heute. 1999 malt er den Tod, der als Skelett im Nato-Bomber über dem Balkan kreist.
„Das Wie der Wahrnehmung bedingt, als was wir die Welt zu sehen in der Lage sind“, schreibt der dänische Maler Asger Jorn. Er, einstiges Mitglied der Künstlergruppe Cobra, fand die wohl adäquateste bildkünstlerische Entsprechung für das Drama an der Wolga. „Stalingrad. Niemandsland. Irres Gelächter der Tapferkeit“ heißt das drei mal fünf Meter große Bild, an dem er bis kurz vor seinem Tod 1973 arbeitete. Am Ende droht ein einziges kaltes, schmutziges Weiß alle zuvor in sechzehn Jahren mühsam aufgetragenen Schichten zu verschlingen. Wenigstens hier hat der Schnee die Mythen unter sich begraben.