: „Das Internet ist das Nervensystem“
Das digitale Copyright ist keine deutsche, sondern eine globale Angelegenheit: John Perry Barlow ist bis heute ein Vordenker der Netzkultur. Er glaubt noch immer, dass sich am Ende die Freiheit der Information durchsetzen wird, aber er warnt vor neuen, weltweiten Monopolen der Medienindustrie
Interview DIETMAR KAMMERER
taz: Sie sind einen weiten Weg gereist, um über eine deutsche Gesetzesnovelle zu debattieren, deren Inhalt sogar für die meisten Leute hier zu kompliziert ist.
John Perry Barlow: Das ist keine deutsche oder europäische Angelegenheit, sondern eine globale. Wir sind gerade dabei, herauszufinden, ob jeder Mensch auf dem Planeten in Zukunft gezwungen sein wird, seine Informationen durch einen sehr engen Kanal zu bekommen. Darum geht es: um ein Medienmonopol auf globaler Basis. Nationale Grenzen bedeuten einem multinationalen Unternehmen per Definition rein gar nichts.
Die Gesetzesvorlage wurde auf europäischer Ebene vollständig nach dem Willen von internationalen Medienkonzernen durchgedrückt und wird jetzt von denselben Organisationen Deutschland aufgezwungen. Und es gab fast keine öffentliche Diskussion darüber. Ich bin in der Hoffnung hierher gekommen, endlich eine zu entfachen.
Halten Sie es denn für möglich, die etwas undurchschaubare Gesetzesmaterie auf allgemein verständliche Begriffe zu bringen?
Das hoffe ich doch. Eigentlich ist es sogar sehr einfach: Hat man das Recht, die Kreativität, die einem gefällt, mit seinen Freunden zu teilen? – was meiner Ansicht nach ein grundlegendes menschliches Bedürfnis ist. Wenn man ein schönes Lied hört, will man, dass auch andere es singen. Das ist fundamental, das wollte der Mensch schon im Neolithikum. Jetzt wird versucht, das unmöglich zu machen.
Es geht also um mehr als nur darum, ob ich mir umsonst die nächste Madonna-CD brennen kann …
„Digital Rights Management“ (DRM), technologisch kontrollierte Benutzerrechte, sind politisch, sind „Political Rights Management“. Wenn es möglich wird, die grundlegende Architektur des Cyberspace so umzubauen, dass alles, was Leute miteinander teilen oder sich zu sagen haben, überwacht werden kann, dann werden politische Äußerungen so leicht kontrollierbar wie der Austausch von Musik.
Es geht um „Free Spech“, und um Meinungsfreiheit. Darum, dass unterschiedliche Standpunkte weiterhin Wege finden, auf denen sie geäußert werden können. Unter einem Medienmonopol wird das nicht länger möglich sein.
Sie setzen sich für eine vollständige Deregulierung des Internets ein. Heißt das, das Netz wird seine eigenen Regeln finden, oder wird Anarchie herrschen? Was zum Beispiel ist mit der Meinungsfreiheit von Naziseiten im Netz?
Meiner Ansicht nach ist die beste Antwort auf Hate Speech immer noch Love Speech. Das ist hierzulande wahrscheinlich wenig populär, aber ich unterstütze auch das Recht, Naziseiten ins Netz zu stellen. Als Hitler „Mein Kampf“ schrieb, saß er im Gefängnis! Es macht solche Ansichten nicht unbedingt schwächer, wenn man versucht, sie zu unterdrücken.
Es ist eine Sache, die Naziideologie zu predigen, und eine ganz andere, auf die Straße zu gehen und andere Leute zu verprügeln. Das muss selbstverständlich strengstens bestraft werden! Aber dafür Werbung zu machen sollte, unglücklicherweise, erlaubt bleiben. Ich jedenfalls finde die Argumente dafür stärker als die dagegen.
Sie scheinen einen starken Glauben daran zu haben, dass das Internet seine eigene Ethik entwickelt.
Es hat schon immer bewiesen, dass es dazu in der Lage ist. Es gibt Ausnahmen, was zum Beispiel die Massenversendung von unerwünschten E-Mails angeht. Aber im Großen und Ganzen hat das Netz gezeigt, dass es sich durchaus selbst regulieren kann. Ganz ohne Eingriffe durch eine Regierung.
Organisationen wie was W3-Consortium oder Icann sind Ihrer Ansicht nach keine Regierungen?
Sie sind regierungsähnlich. Bis jetzt waren sie recht hilfreich. Vielleicht ist Icann nicht ganz so gelungen. Ich möchte hier allerdings nicht in alle Details gehen, warum ich es für eine unglückliche Einrichtung halte. Aber die „Internet Engeneering Task Force“ (IETF) etwa arbeitet sehr erfolgreich, wie ich finde. An der IETF ist sehr schön zu sehen, wie ein Konsens hergestellt werden kann oder sogar eine Art von Demokratie in globalem Maßstab.
Wofür setzt sich die „Electronic Frontier Foundation“ ein?
Zurzeit beschäftigen wir uns vor allem mit digitalem Copyright, weil wir der Überzeugung sind, dass dieses Thema in einer sehr engen Beziehung zur Meinungsfreiheit steht. Aber wir beschäftigen uns auch mit Fragen des Datenschutzes, aus dem gleichen Grund. Wir versuchen etwa, unsere Regierung davon abzuhalten, sich Zugriff auf sämtliche kommerzielle Datenbanken der USA zu verschaffen, damit sie das Verhalten jedes Einzelnen genau unter die Lupe nehmen kann. Und seit Jahren schon setzen wir uns für das Recht von Leuten ein, Dinge im Netz zu veröffentlichen, die andere Leute dort nicht sehen wollen. Meinungsfreiheit ist nicht die Freiheit desjenigen, der genau das Gleiche denkt wie man selbst. Es ist die Freiheit desjenigen, der Dinge denkt, die man nicht ertragen kann.
Sie sehen sich also in der Tradition der „Free Speech“-Movement der 60er-Jahre?
Ich sehe mich in der Tradition von Thomas Jefferson oder Tom Paine, oder, wenn es schon sein muss, auch Sokrates. Ich bin gewiss auch ein alter Hippie. Das würde ich nicht leugnen wollen.
Ihr Essay über die „Economy of Ideas“ stammt aus dem Jahr 1994. Ist er heute noch gültig?
Die grundlegenden Prinzipien sind es. Das war damals ein Alarmruf, der vielen voreilig erschien. Aber wenn man sich die letzten acht Jahre anschaut, ist das meiste, vor dem ich gewarnt habe, bereits eingetreten.
Aber Sie sind kein Pessimist.
Ich bin kein Pessimist, nein, von Natur aus nicht. In Wirklichkeit ist das ein Krieg zwischen den Vertretern der Vergangenheit und denen der Zukunft. Und ich werde immer auf die Vertreter der Zukunft setzen.
Was hat der „Digital Millennium Copyright Act“ (DMCA) gebracht, die Reform des amerikanischen Urheberrechts, die noch unter Bill Clinton durchgesetzt wurde?
Ich glaube, dass wir noch lange nicht alle Konsequenzen des DMCA erlebt haben, da der Kopierschutz, den er erlaubt, vielfach noch nicht vollständig umgesetzt worden ist. Bei uns gibt es noch nicht so viele kopiergeschützte Musik-CDs wie hier in Europa. Software ist im Allgemeinen nicht kopiergeschützt, wird es aber werden. Auch das Herunterladen von Filmen hat der DMCA nicht erfolgreich verhindern können und muss es offensichtlich auch nicht, schließlich gehen mehr Leute denn je ins Kino. Und es werden mehr DVDs als jemals verkauft, obwohl man sie auch online umsonst bekommen könnte.
Es gab auch Rückschläge für die Verfechter eines noch strengeren Kopierschutzes.
Die Unterhaltungsindustrie wollte ein Gesetz durchbringen, das ihr im Grunde das Recht gegeben hätte, in die PCs der Leute einzudringen, um zu sehen, was sich auf deren Festplatten befindet. Und große Teile des Internets lahm zu legen, den gesamten Bereich des „Peer to Peer“-Filesharing. Sie hätte etwa sämtliche Datenflüsse, die aus Deutschland ankommen, abschalten können, wenn sie der Meinung gewesen wäre, dass da zu viel Datenaustausch stattfindet.
Der DMCA ging zu weit, und nun zieht man sich zurück.
Ja, ich denke, das stimmt. Der DMCA war wirklich die schlimmstmögliche Variante. Und jetzt haben wir eine viel breitere öffentliche Diskussion darüber als zuvor. Ganz gewiss mehr als hier in Europa.
Gibt es auch ökonomische Argumente für eine Lockerung des Urheberrechts?
Das Problem ist, dass die Rechteindustrie den wirklichen Unterschied zwischen physischen Gütern und virtuellen Gütern, die viel mehr virtuelle Dienstleistungen sind, nicht begreift. Sie geht davon aus, dass in der virtuellen Welt exakt die gleichen Regeln herrschen wie in der physikalischen, wo es eine klar definierte Abhängigkeit gibt zwischen Knappheit und Wert. Je verfügbarer etwas wird, desto weniger ist es wert. Das stimmt jedoch keinesfalls in der virtuellen Welt. Dort besteht vielmehr eine Beziehung zwischen dem Grad an Bekanntheit und Wert.
Ein ganz anderes Modell.
Ein vollkommen anderes Modell. Augenblicklich ist es für die Unterhaltungsindustrie noch sehr einfach, zu sagen, es bestehe kein Unterschied zwischen dem Download eines Musikstücks und Ladendiebstahl. Beides sei Diebstahl. Und die Politiker glauben das – dabei gibt es zwischen beidem sehr wohl einen gewaltigen Unterschied. Wenn man in einen Laden geht und eine Jacke stiehlt, dann kann der Laden diese Jacke nicht mehr verkaufen. Der Wert ist verloren. Wenn man online geht und sich einen Song herunterlädt, dann hat die Plattenfirma ihn noch. Er ist nicht verschwunden.
Bloß weil man sich einen Song auf die Festplatte lädt, heißt das noch lange nicht, dass man sich niemals die CD kauft, auf der er zu finden ist. Ich weiß ja nicht, wie es bei Ihnen ist, aber ich habe mir eine ganze Menge CDs gekauft, gerade weil ich die Songs zuvor im Internet hörte.
Sie haben einmal geschrieben, das Internet sei eine Art Lebensform, ein externes Gehirn. Wie soll man das verstehen?
Das Internet ist das Nervensystem des kollektiven Organismus des menschlichen Denkens. Ich betrachte menschliches Denken als eine Art Organismus oder ein Ökosystem. Tatsächlich ist das nur ein feiner Unterschied. Das meiste, was wir als Organismus ansehen, ist in Wirklichkeit eine Ansammlung von kleineren Einheiten, die zusammen interagieren. Das Denken ist da ganz ähnlich. Ideen sind sehr wohl Lebensformen. Die Gemeinschaft des menschlichen Denkens auf globaler Basis wird immer dichter – und reicher. Die Entwicklung des Internets ist so etwas wie das Nervensystem dazu, eine Art globales Gehirn.
Das ist ein Gedanke, den ich für sehr wichtig halte, denn er ändert die Art und Weise, wie man sich zum Internet verhält. Keine mechanische Metapher, sondern eine biologische. Es lässt einen erkennen, dass es sich um eine natürliche Umgebung handelt, die beschützt und bewahrt werden muss statt ausgebeutet, denn das würde schließlich zum Zusammenbruch des Systems führen.
Stammt daher Ihr Optimismus? Weil Sie glauben, dass sich das Internet als eine Art Lebewesen immer den Regulierungen von außen widersetzen kann?
Auf lange Sicht wird es sehr schwierig sein, das Internet unter fremde Kontrolle zu bringen. Aber auf kurze Sicht ist es viel einfacher, als ich befürchtet hätte. Ich bin viel weniger optimistisch heute, als ich es zur Zeit der Declaration of Independence war. Die war sehr optimistisch. Aber jetzt erkenne ich, wozu die alten Mächte imstande sind, um sich in die Zukunft zu retten. Und zu was sie allem bereit sind. Ich denke, sie können die Grundlagen des Internets ändern. Und wenn sie das tun, werden Kontrollmechanismen eingesetzt, die noch in Kraft sein werden, lange nachdem diese Unternehmen verschwunden sein werden!
Wir müssen sie jetzt aufhalten, und letztendlich werden wir das. Diese Unternehmen sind sehr groß und sehr reich und haben sehr viel Macht, aber sie spüren auch, dass sie um ihr Überleben kämpfen. Das macht sie so gefährlich.