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Archiv-Artikel

Das Schweigen am Rande

Wer islamistische Gemeinden verbietet, verhindert offene Diskussionen unter den Diaspora-Muslimen – und damit letztlich ihre Integration in die westliche Gesellschaft

Die Scheu, andere Muslime öffentlich zu kritisieren, hat nichts mit islamischer Konfliktkultur zu tun

Mit der Hisb-ut Tahrir, der islamistischen Partei der Befreiung, hat das Innenministerium kürzlich – nach dem Kalifatstaat – die zweite islamistische Gemeinde in Deutschland verboten. Beide sind einander ähnlich: Sie vertreten einen radikalen antiamerikanischen und antiisraelischen Diskurs. Sie betonen die Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie. Sie verstehen sich als das einzig verbliebene Sprachrohr, das der amerikanischen Hegemonie etwas entgegensetzt. Sie betonen eine radikale Differenz des Islam zum Christentum. Eine Verbindung zu dem gewalttätigen Flügel des Islamismus, zu al-Qaida, konnte nicht nachgewiesen werden.

Die Bewegung des politischen Islam, der die beiden Gemeinden angehören, hat in den letzten Jahren eine Schwächung erfahren. Aus dem Kreis des Islamismus heraus wurden zunehmend Stimmen laut, die den revolutionär-elitären Gestus und die Intoleranz gegenüber allen Abweichlern kritisierten. Diese Stimmen entstammten nicht selten dem islamistischen Lager selbst. Dies ist kein Zufall. Ein Grundzug des Islamismus war die Rückkehr ad fontes: Die gegenwärtige Schwäche des Islam resultiere daraus, dass die ursprüngliche islamische Botschaft von nicht islamischen Traditionen überdeckt und damit verfälscht wurde. Durch eine Rückkehr zur Schrift ließe sich die ursprüngliche Kraft der Lehre wiederbeleben. Gegen das Interpretationsmonopol der Geistlichkeit (die vielen Islamisten als allzu konservativ erschien) wurde die individuelle Aneignung der Schrift gesetzt.

Dieser Gestus, der uns aus der abendländischen Tradition vertraut ist, ist ambivalent. Einerseits birgt er den Kern von totalitären Lesarten. Das überhebliche Wegwischen jahrhundertelang geübter Textkritik öffnet Tür und Tor für eklektische und willkürliche Lektüren sowie für Demagogen. Andererseits kann es nicht ausbleiben, dass auf diesem Hintergrund eine Pluralität von Lesarten wächst. Dies führt nur dann nicht zu einer immer weiteren Fraktionierung, wenn man eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung entwickelt und die Relativität der eigenen Positionen einräumt.

Dieser Vorgang hat in unterschiedlicher Weise in der islamischen Welt eingesetzt. Überall wurde eine Kritik an der Arroganz und dem Elitarismus der ersten Generation von Islamisten laut. Ihnen wurde vorgeworfen, über die Entwicklung einer radikalen islamischen Position einige Grundpositionen des Islam verraten zu haben – nicht zuletzt die Gelassenheit gegenüber Pluralität. Auf dem Boden des Fundamentalismus wuchs das Pflänzchen demokratischer Kultur. Dieser Prozess ist am weitesten im Iran fortgeschritten. Er hat in der arabischen Welt eingesetzt, droht dort allerdings durch die Entwicklungen in Palästina und Irak wieder weggefegt zu werden. Er bestimmt die Diskussion in der Türkei. Relativ schwach ist diese Auseinandersetzung allerdings in der europäischen Diaspora entwickelt. Hier haben sich zwar in den letzten Jahren neue Positionen entfaltet (wie die des europäischen Islam), aber es ist zu keiner lebendigen Diskussion der Positionen untereinander gekommen.

Dies liegt an einem grundsätzlichen Problem, vor dem sich Muslime auch und gerade in Deutschland sehen. Sie sind besonders nach dem 11. September einem ständigen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Ihnen werden Bekenntnisse zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung abverlangt. Ihnen wird vorgeworfen, sich nicht deutlich von problematischen Positionen abzusetzen, die im Namen des Islam artikuliert werden. All diese Forderungen sind nachvollziehbar. Trotzdem ist gerade das Einklagen von Bekenntnissen kontraproduktiv.

Der Rechtfertigungsdruck, vor dem islamische Gemeinden sich in Deutschland sehen, erschwert die Entstehung einer demokratischen Diskussionskultur. Er setzt nämlich ein Machtverhältnis.

Auf der einen Seite stehen die, die die demokratischen Werte für sich gepachtet zu haben meinen. Auf der anderen stehen die Angehörigen islamischer Gemeinden, denen man mit Misstrauen und Vorurteilen gegenübertritt. Am Tor der Wertegemeinschaft stehen die Türsteher, die entscheiden, wer dazugehört und wer nicht. Dies ist demütigend für jeden, der sich dieser Prozedur unterziehen muss. Wer sich auf dieses Spiel einlässt, überlässt es den anderen, den Nichtmuslimen, zu entscheiden, wer ein guter, sprich ein aufgeklärter, demokratischer Muslim und wer ein undemokratischer, problematischer Muslim ist. Dem Ersteren wird ein Bleiberecht versprochen, dem anderen wird es abgesprochen.

Bei vielen Muslimen entsteht der Eindruck, dass sie bei jeder kritischen Äußerung über Israel oder die USA sofort unter die zweite Kategorie fallen und dass wegen des generalisierten Misstrauens auf ihre Kritik empfindlicher reagiert wird als auf eine, die von Deutschen geäußert wird.

Muslime sind in Deutschland einem ständigen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt

Bei vielen entsteht der Eindruck, dass sie verloren haben, wenn sie sich auf das Spiel der Suche nach Anerkennung einlassen: Die andere Seite wird immer weiter nachkarten, so lange, bis man genuin islamische Positionen geräumt hat und sich zu einer islamisch gefärbten christlichen Konfession bekennt.

Selbst dann wird man dem Verdacht nicht entgehen, im Grunde ein Wolf im Schafspelz zu sein. Die Mehrzahl zieht sich in dieser Situation zurück. Sie wahrt Distanz und schweigt. Andere erheben wütend Protest. Sie stellen die Frage nach der Legitimation der Positionen der Türsteher. Ist es nicht gerade die in diesem Zusammenhang immer beschworene christlich-abendländische Wertegemeinschaft, aus der heraus der Massenmord an Juden verursacht wurde und auf deren Kappe Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus entstanden sind, die nun im Namen der Demokratie ihnen moralische Bekenntnisse abverlangt? Nur eine Minderheit erhebt derart die Stimme. Allgemein aber ist ein verbreitetes Unbehagen über das, was als Arroganz der Macht verstanden wird. Dieses Unbehagen führt zu einer Scheu, andere Muslime öffentlich zu kritisieren, selbst dann, wenn man ihre Positionen als problematisch empfindet. Dies hat nichts mit „islamischer Konfliktkultur“ zu tun, aber sehr viel mit Machtverhältnissen. Wir kennen dieses Phänomen von sozialen Bewegungen: Unter Berufung auf Frauensolidarität wurde Zurückhaltung bei Kritik an Geschlechtsgenossinnen eingefordert.

Es ist aber wichtig, dass der Islamismus aus den islamischen Gemeinden heraus überwunden wird und dass eine Diskussionskultur entsteht. Verbote und Rechtfertigungsdruck verhindern diese Entwicklung jedoch nachhaltig. An die Stelle zivilgesellschaftlicher Auseinandersetzung tritt obrigkeitsstaatliches Verbot. Der Sache der Demokratie als einer Form der Auseinandersetzung freier und mündiger Bürger ist damit nicht gedient. Deutschland geht damit in Europa mit schlechtem Beispiel voran: In England, dem gegenwärtigen Zentrum von Hisb-ut Tahrir, ist von einem Verbot nicht die Rede. WERNER SCHIFFAUER