Superstar Otto Normalverbraucher

Einst galt jeder Konsument als gewöhnlich – bei Marktforschern. Dann verzweifelten sie – weil alle Welt individuell tat. Doch auch diese Zeiten sind vorbei – sagen die Statistiker. Eine Zeitgeschichte der Durchschnittlichkeit

von DIETMAR BARTZ

Wie peinlich ist es, einen Smart oder VW Beetle zu fahren? Einen Pullover mit Querbalken zu tragen? Den Sekt bei Aldi zu kaufen, Bayern München gut und Campino von den Toten Hosen schrecklich zu finden? Und wie peinlich ist es, das alles peinlich zu finden?

Im Geschmack drückt sich Identität aus, erklärt uns die Konsumpsychologie. Man ist nicht nur, was man isst, sondern auch was man trägt und sieht. Doch je mehr Moden hochgekocht, Trends ausgebeutet, Nischen verwertet ist, umso schneller wandelt sich die ganze Fülle der Spezialitäten in ein großes Einerlei. Dann lässt sich durchs Kaufen keine Persönlichkeit mehr stiften. So kehrt der Durchschnitt, größter Feind des Individuellen, in die Wohlstandsgesellschaft zurück.

Über Jahrzehnte haben die Konsumforscher des Statistischen Bundesamtes die Ausgaben der Haushalte nach sozialen Typen unterschieden. Diese Zeiten sind vorbei – es wurde zu kompliziert. Von heute an, 1. Februar 2003, rechnen sie nur noch mit einem Durchschnittsmodell: Dann werden wir alle wieder Teil von Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller.

Dabei hatte ihn die westdeutsche Gesellschaft in den Siebzigerjahren entschlossen aus ihrer Mitte entfernt. Als „Konsument schlechthin“ passte er nicht mehr zum neuen, flexiblen Kaufverhalten. Mit schnell steigendem Wohlstand ging die Ära des Traditionellen zu Ende: Opel Kadett, die Volkszigarette HB, die Möbel der toten Tante und der Cognac Asbach Uralt. Schick waren jetzt die Alternativen zu ihnen: Golf GTI, Marlboro, Ikea und Jacques’ Weindepot beispielsweise.

Aber welche Marken, Label und Läden plötzlich in waren, überraschte viele Marketingexperten. Die meisten hatten das Auftreten kleiner Trendgruppen und deren Ausstrahlung auf den Rest der Bevölkerung nicht mitbekommen: nicht die Windsurfer Mitte der Siebzigerjahre, die später den Funsport begründeten, nicht die Popper wenige Jahre darauf, die die Markenkleidungswelle auslösten.

Nur bei Karstadt waren sie etwas schlauer: Der Warenhauskonzern nahm schon im Sommer 1980 Punkklamotten in sein Sortiment auf. Doch viele Einzelhändler wurden davon überrascht, wie schnell sich die Wahl von Kleidung, Urlaubszielen oder Hobbyartikeln nicht mehr nach den traditionellen Kriterien richtete: nach Beruf, Einkommen und Bildungsstand. Aber wonach dann? Mit den klassischen Werkzeugen der Marktforschung war das nicht zu erklären.

Die legendäre „Sinus“- Studie von 1979 bewirkte dann auch die kategorische Vertreibung Otto Normalverbrauchers aus dem statistischen Denken. Sozialwissenschaftler untersuchten damals die Werte der Westdeutschen, etwa „Bewahren“, „Genießen“, „Haben“ oder „Sein“. Nach den Ergebnissen der Befragung bestand die Bevölkerung nun nicht mehr aus Arbeitern, Angestellten und Rentnern, sondern aus acht Gruppen.

Auf das kleinbürgerliche Milieu entfielen 29 Prozent der Bevölkerung, auf das traditionelle und auf das traditionslose Arbeitermilieu acht beziehungsweise neun Prozent. Als Aufstiegsorientierte bezeichneten die Sozialforscher 21 Prozent, als Technokratisch-Liberale elf und als Konservativ-Gehoben zehn Prozent. Ganz neu waren das alternativ-linke und das hedonistische Milieu mit vier und acht Prozent.

Endlich konnten die Werber wieder Zielgruppen ins Visier nehmen. „Trainieren Sie das Schießen auf bewegliche Ziele“, riet ihnen Rüdiger Szallies, Geschäftsführer der tonangebenden Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) in Nürnberg. Alle diese Gruppen änderten immer schneller ihre Nachfrage, weil ihnen nach der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse noch eine Menge Geld übrig blieb, das sie nicht mehr für schlechte Zeiten sparten. „Otto Normalverbraucher“, so Szallies, „wird abgelöst durch den postmodernen anything-goes-Typ ‚Markus Möglich‘.“

Markus Möglich – diese albern alliterierende Neuschöpfung ist nie populär geworden. Schon Otto Normalverbraucher hatte den Nachteil, ein Mann zu sein – für die Konsumwünsche beider Geschlechter stand er nie. Viel neues Umsatzwachstum ging aber von Frauen aus. Ihre Berufsausbildungen machten sie materiell unabhängiger. Als Teil eines Paares entschieden sie oft allein über teure Beschaffungen und stiegen so zur eigenständigen Zielgruppe der Werbung auf.

Weder Konsumformen noch Geschlechterverhältnis haben sich seither zurückentwickelt. Gerade weil die Ausdifferenzierung weitergeht und das Statistische Bundesamt niemanden mehr findet, dessen Konsumverhalten sich noch zu analysieren lohnt, kehrt Otto Normalverbraucher zurück.

Die Behörde kapituliert vor der sozialen Vielfalt Deutschlands. Ob die vierköpfige Familie von Beamten und Angestellten mit höherem Einkommen oder von mittelmäßig verdienenden Angestellten und Arbeitern, ob die Gruppe der Rentnerpaare mit wenig Geld – keine der klassischen Lebensformen vertritt heute noch mehr als fünf Prozent aller Haushalte. Dazu teilt sich jede noch in die Varianten Ost- und Westdeutschland. Ganz zu schweigen von den allein erziehenden Arbeitslosen, allein lebenden Witwen, kinderlosen Doppelverdienern und informellen Wohngemeinschaften oder gar von den postmodernen Milieus der Hedonisten, Linksalternativen oder Traditionslosen.

Sie sind allenfalls noch zahlenmäßig zu erfassen, aber nicht mehr im Kaufverhalten zu analysieren. Eine Untersuchung, wie jede einzelne Kleingruppe ihre Ausgaben gewichtet, würde eine teurere Datenerhebung als bisher erfordern – und doch keine Aufschlüsse hervorbringen.

Um ihre Konsequenzen aus dem Zerfall der Gesellschaft zu ziehen, setzen die Statistiker beim Warenkorb an. Er umfasst eine putzige Liste mit 750 Gütern und Dienstleistungen, die die Ausgaben eines Durchschnittshaushaltes simulieren: von Eiern und Gurken über die Miete bis hin zum Auto und den Friedhofsgebühren. Das Amt errechnet aus den Preisen dieser Einzelposten die Inflationsrate. Um den Konsum von Arm und Reich zu unterscheiden, hat es bisher seine Untersuchungen nach den traditionellen Haushaltstypen aufgeschlüsselt. Das hört jetzt auf: Die Zahlen werden nur noch für einen Durchschnittshaushalt bekannt gegeben.

Da ist er wieder, Otto Normalverbraucher, der „typische“ Konsument. Gegenüber seinem früheren Leben hat er sich allerdings geändert: Er ist auf eine rechnerische Größe geschrumpft, die mit dem realen Leben nichts mehr zu tun hat. Wenn ein armer Haushalt sechzehn Prozent seines Einkommens für Lebensmittel ausgibt, ein wohlhabender aber nur neun Prozent, liegt der gewichtete Durchschnitt künftig bei dreizehn Prozent – nur noch diesen Wert bekommen wir künftig aus Wiesbaden geliefert.

Früher war Otto Normalverbraucher Inbegriff des Typischen, heute ist er dessen Gegenteil. Die Statistik funktioniert wie der Hirsch im Witz von den drei Konsumforschern, die auf die Jagd gehen. Der Erste zielt auf das Tier und schießt einen Meter zu weit nach rechts. Der Zweite zielt, schießt aber einen Meter zu weit nach links. Der Dritte jubelt: „Getroffen!“

Nicht einmal mehr die alte Spaltung in Ost und West lässt das Bundesamt bestehen. Noch 1995, daher stammt der letzte Warenkorb, unterschieden sich die Aufwendungen in den Alt- und den Neubundesländern erheblich. Aßen Ossis dreimal so viel Cervelatwurst wie die Wessis, gaben die Wessis doppelt so viel für Jagdwurst aus wie die Ossis. Wem helfen da die Mittelwerte? Doch die Unterschiede schwinden rapide, fanden die amtlichen Statistiker heraus. Heute ähneln die Haushalte in Mecklenburg-Vorpommern in ihrem Ausgabenverhalten mehr denen in Schleswig-Holstein als denen in Sachsen.

Weiterhin erscheinen aber getrennte Zahlenreihen über das Konsumverhalten in Ost und West. Nur werden sie nicht mehr in Alt-BRD und Berlin (West) sowie Ex-DDR mit Berlin (Ost) unterteilt, sondern ab jetzt in „Westdeutschland ohne Westberlin“ und „Ostdeutschland ohne Ostberlin“. Die Hauptstadt errechnet ihre Werte extra. „Wir können Berlin nicht mehr teilen“, meint Jürgen Chlumsky vom Statistischen Bundesamt. Mit den starken Wanderungsbewegungen in der Stadt versagt hier jede Binnendifferenzierung. Nach Berlin ist Otto Normalverbraucher als Erstes zurückgekehrt.

Hier kommt er übrigens auch her. Ein spindeldürrer Gerd Fröbe spielte 1948 in dem Film „Berliner Ballade“ den heimgekehrten Soldaten Otto Normalverbraucher. Er schlägt sich als ehrliche Haut in der zerstörten Reichshauptstadt durch das Leben. Drehbuchautor Günter Neumann setzte auf alles, was Identifikation ausmacht: auf die Gestalt, auf den Namen, auf die Rolle.

Der heute sperrig wirkende Nachname ist ein Zitat: „Nur für Normalverbraucher“ stand auf den meisten Marken für die Lebensmittelzuteilung, die schon seit Kriegsbeginn und weiter auch nach der Kapitulation ausgegeben wurden. Wer nicht körperlich schwer arbeitete oder einen Säugling zu stillen hatte, musste mit 1.500 Kalorien pro Tag auskommen – dieses Quantum galt als Normalverbrauch.

Im Film findet Otto Normalverbraucher in einer Druckerei Arbeit, die Schilder mit dem Text „Ware noch nicht eingetroffen“ herstellt. In seinen Memoiren schreibt Fröbe: „Meist hatte ich nicht einmal eine Mark in der Tasche, dafür jedoch einen Hunger, für den ‚Kohldampf‘ eine Untertreibung war.“ Auch nach der Währungsreform im Juni 1948 durfte er sich nicht satt essen, denn er stand vor der Kamera: „Da musste ich meine 116 Pfund noch wochenlang halten.“ Ein dürrer Hahn, zunächst. Zur anhaltenden Popularität Fröbes trug sicherlich bei, dass seine Gewichtszunahme bis hin zur Rolle des Schurken Goldfinger im gleichnamigen James-Bond-Film von 1964 parallel zu jener vieler Bundesbürger verlief.

Der Vorname Otto war übrigens besonders anspielungsreich gewählt. Seit der Kaiserzeit hieß so im Berlinischen eine Sache, über die in expressiven Anredesätzen Hochachtung ausgedrückt wurde, einen Braten etwa: „Das ist aber ein Otto!“ Der Schauspieler Hans Albers, der um 1930 zum Star wurde, popularisierte die Wendung und trug selbst den Spitznamen „Otto-Otto“.

Der Feuilletonist Harald Bergen erinnert sich: „ Will er sich nach seinem geliebten Hummer erkundigen, fragt er garantiert: ‚Na, was hast du denn heute für ’n Otto? Verlangt’s ihn nach einem ‚Doppelten‘, bestellt er einen ‚Otto mit hochprozentigem Aufdruck‘. Pressefotografen, genannt Ottos, machen ‚blanke Ottos‘ von ihm. Kritiker, ebenfalls Ottos, schreiben ‚dolle Ottos‘.“ Und einer seiner Dackel hieß ebenfalls so.

Möglicherweise hat er das Wort auf der Rennbahn in Hoppegarten aufgeschnappt. „Deutschlands bester und schnellster Jockey zu Albers’ großer Zeit hieß Otto Schmidt“, schreibt der Albers-Biograf Otto Tötter: „Und wenn er im Sattel saß und sich wieder mal anschickte, das Feld hinter sich zu lassen, sprangen die Menschen auf den Tribünen auf und schrien wie aus einem Mund im Rhythmus: ‚Otto-Otto‘.“ Der Regisseur Fritz Kortner, vor dessen bissigen Sprüchen kein Kollege sicher war, meinte dann: „Hans Albers hat es leicht. Er kommt mit zwanzig Wörtern aus. Zwei davon sind ‚Otto-Otto‘.“

Drehbuchautor Günter Neumann, der auch die Berliner Satirezeitschrift Der Insulaner herausgab, kannte Hans Albers und seine Ottomanie, als er die Rolle des Normalverbrauchers für die „Berliner Ballade“ schrieb. In der Vorlage, Neumanns Kabarettprogramm „Schwarzer Markt“ von 1947, fehlte die Figur noch. Im Film hält sie die Handlung zusammen, die eher an eine Abfolge von Sketchen erinnert.

Zwar erhielt Fröbe 1949 bei den Festspielen in Venedig den Sonderpreis für die „geistvolle Darstellung der deutschen Nachkriegsverhältnisse“. Aber insgesamt war der Film weder mutig, noch taugte er zur Ablenkung.

In dieser Zeit, schreibt der Publizist Klaus Kreimeier, entschied sich das Massenpublikum „intuitiv für die handfeste, von politischer Bigotterie freie Unterhaltungsqualität der amerikanischen Exportfilme“. Das trieb Heinz Rühmann, Produzent und Finanzier der „Berliner Ballade“ und ihres Helden Otto Normalverbraucher, fast in den Ruin. Betulichkeiten aus deutscher Fertigung floppten schon damals.

Hinzu kamen die ständigen Materialengpässe und Stromunterbrechungen in den Filmstudios in Tempelhof, denn während der Dreharbeiten zur „Berliner Ballade“ fand auch die Berliner Blockade statt. Nachdem Rühmanns Filmgesellschaft Comedia 1951 Konkurs anmeldete, blieben ihm Millionenschulden, an denen er noch bis in die Sechzigerjahre abzahlte. Doch der Name Otto Normalverbraucher ging in den deutschen Wortschatz ein: ein echtes Verdienst des Bruchpiloten.

Wenn der Ethnologe Clemens Niedenthal Recht hat, werden in der RTL-Produktion „Deutschland sucht den Superstar“ ausgerechnet die beiden Durchschnittskandidaten Alexander und Gracia den Kampf um den ausgelobten Plattenvertrag unter sich ausmachen, nicht aber ihre lasziven, verruchten oder albernen Mitbewerber.

Hartes Tanztraining, endlose Stimmübungen, Hetze von Termin zu Termin: Inhalt wie Botschaft der „Superstar“-Serie ist, dass Erfolg nur durch harte Arbeit entsteht. Kein lässiges Gelingen, sondern Schweiß und Tränen – solche Allerweltserfahrungen, glaubt Niedenthal, werde das am Ende abstimmende Publikum honorieren.

Otto Normalverbrauchers Enkel identifizieren ihre Stars. Sie wollen Plackerei und Überstunden wie seit dem Wiederaufbau nicht mehr.

DIETMAR BARTZ, Jahrgang 1957, ist seit 2001 taz-Meinungsredakteur. Jüngste Buchveröffentlichung ist das Lexikon „Wirtschaft von A bis Z“, Eichborn, Frankfurt am Main 2002, 511 Seiten, 24,90 Euro