: Zoff um Pferdeschwanz
Das Landgericht spricht Euromayday-Aktivistin vom Vorwurf des Diebstahls frei und hebt „Gesinnungsurteil“ auf. Wer gegen Prekarisierung kämpft, steht nicht unter Generalverdacht
VON KAI VON APPEN
Den Umverteilungsklau in Robin Hood-Manier im Gourmet-Laden „Frische Paradies“ kurz vor dem 1. Mai 2006 bezeichneten sogar Medien in Tokio und London als „lustigen Coup“. Die Verurteilung von Euromayday-Aktivistin Irene H. durch das Amtsgericht Altona wegen „Diebstahls“ sorgte hingegen als „Gesinnungsurteil“ für Entsetzen – zumindest hierzulande. Am Mittwoch hob das Landgericht das Urteil nun auf und sprach Irene H. frei. „Die Angeklagte“, sagte Richter Gerd Nickau, „konnte nicht als Mittäterin identifiziert werden.“
In seiner Begründung übte Nickau scharfe Kritik: „Das Ergebnis hätte schon früher ergehen müssen“, rügte er das Verhalten der politischen Staatsanwaltschaft und gab damit Verteidigerin Gabriele Heinecke Recht. Die hatte das erstinstanzliche Urteil als „Gesinnungsurteil“ gegeißelt. Einzig belastendes Indiz gegen ihre Mandantin: die 31-Jährige trägt einen Pferdeschwanz.
Rund 30 „Superhelden“ hatten am 28. April 2006 – verkleidet als „Spider-Mom“ und „Superflex“ und getarnt mit Masken – den Gourmet-Markt an der Großen Elbstraße um Champagner, Hirschkeulen, Pralinen und andere Delikatessen erleichtert. Das Diebesgut wurde anschließend an Erzieherinnen, Putzfrauen, Dauerpraktikanten, Kitas und prekär beschäftigte Ein-Euro-Jobber verteilt. Damit sollte auf den Widerspruch zwischen Arm und Reich in der Stadt der Millionäre aufmerksam gemacht werden. Fotos und Infos zu der Aktion erschienen im Internetportal Indymedia – darunter das Bild einer maskierten Frau mit Pferdeschwanz. Der Staatsschutz tappte zunächst im Dunkeln. Die Studentin Irene H. geriet ins Visier, weil sie im Euromayday-Vorbereitungskreis aktiv war – und Zopfträgerin ist.
Obwohl der Ermittlungsrichter zweimal Durchsuchungsbeschlüsse für den „Buttclub“ an der Balduintreppe verweigerte, filzten Staatschutz-Fahnder den Euromayday-Treff am 31. Mai 2006 – ohne richterliche Anordnung. Der Richter, befand seinerzeit die Staatsanwaltschaft, wäre ohnehin nicht in der Lage gewesen, den komplexen Sachverhalt zu verstehen. H. wurde bei der Razzia angetroffen, ihre Wohnung gleich mit gefilzt und ihr Laptop beschlagnahmt.
Vergleiche des Indymedia-Bildes mit einem Foto von H. durch das Bundeskriminalamt brachten keine Übereinstimmungen. Dennoch verurteilte Richter Nils Werner die Frau im Juni 2007: Auf ihrem Laptop fanden sich Aufsätze zum Thema Prekarisierung. „Sie gehören zu dieser Szene“, sagte Werner damals. „Das besagt gar nichts“, konterte nun sein Kollege Nickau: „Wer vom Wort prekär Gebrauch macht, ist nicht automatisch Mittäter“, rüffelte er den Amtsrichter. „Die Aktion kann auch spontan von einer Untergruppe durchgeführt worden sein.“