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: HELMUT HÖGE über Urban Tales

Ihre geografische Breite und historische Tiefe

Kürzlich war ich an einem Sonntag mit meinem Freund Andersan auf einer Einzugsparty im Grunewald. Es war schon fast hell, als wir nach Hause gingen. Vor einer schönen Villa mit Garten blieben wir stehen. „Friede den Palästen, Krieg den Hütten“, murmelte ich. Da trat ein dicker Mann mit Mülltüten aus dem Haus. „Was suchen Sie hier?“, fragte er uns. Der immer noch angetrunkene Andersan antwortete: „Wir kommen aus Kreuzberg und kucken uns nur um!“ Dann – nach einer Pause: „Wenn das hier alles enteignet wird, dann brauchen wir ein Haus für die Kinder, und dies ist nicht schlecht!“ – „Sind Sie betrunken?“, fauchte der Mann. „Nein“, sagte Andersan, „aber sagen Sie, gibt es hinten auch noch einen Garten?“ – „Wenn Sie nicht gleich verschwinden, hole ich die Polizei!“, schrie der Mann.

Auf den Nachbargrundstücken tauchten prompt einige Leute auf und kamen neugierig-feindselig näher. „Ja, wenn Sie so leicht erregbar sind, können wir Sie nicht brauchen, ich dachte erst, Sie könnten hier dann Reparaturen durchführen und ein bisschen den Hausmeister spielen …“ meinte Andersan beleidigt – und zu mir gewandt sagte er dann: „Komm, wir gehen, aber schreib auf – 10 bis 12 Zimmer!“

Kaum waren wir um die Ecke, da fuhr auch schon ein Polizeiwagen langsam an uns vorbei. An der nächsten Ecke kam ein zweiter – uns entgegen. Dieser hielt an und man fragte uns, wo wir hinwollten: Zur S-Bahn – wir durften weiter gehen. Am Bahnhof stand aber schon der andere Polizeiwagen.

In der S-Bahn fiel mir ein, dass die Initiative Bankenskandal von Peter Grottian im Herbst einen „Grunewaldspaziergang“ durchgeführt hatte, wobei den Teilnehmern angesichts der vielen Villen sofort ähnliche Umnutzungsideen eingefallen waren. Und der Redebeitrag der Sprecherin vom „Autonomen Mädchenhaus“, dem man gerade die finanzielle Förderung gestrichen hatte, begann mit dem Büchner-Satz: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“

Wir beide waren aber gar nicht dabei gewesen, ich hatte nur davon gehört oder gelesen. Wahrscheinlich im Internet. Oder reichte es bereits, wenn 10.000 Leute die Rede anklickten, dass man es dann automatisch auch wusste?

Andersan meinte sich erinnern zu können, dass Lenin der Münchner Räterepublik 1919 einmal ein Telegramm geschickt hatte, in dem er sie an „das Wichtigste“ erinnerte: sofort die Bürgervillen beschlagnahmen und sie obdachlosen bzw. in allzu beengten Wohnverhältnissen lebenden Proletariern zuweisen. Das Telegramm von Lenin endete mit den Worten: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ Es erreichte die Münchner Genossen jedoch nicht mehr: Die Reaktion hatte die Räteregierung bereits verjagt und ihre Mitglieder erschossen. „Das Telegramm wurde erst ein paar Jahre später bekannt und dann so berühmt, dass viele der Meinung waren, der Büchnersatz stamme von Lenin.“

Nach diesem Grunewalderlebnis mit Andersan traf ich am Abend im PDS-Buchladen am Rosa-Luxemburg-Platz den Altgenossen Sirius, dem ich gleich davon erzählte. Er war mäßig beeindruckt und meinte dann: „Was ihr aus Kreuzberg da angeblich im Grunewald erlebt habt, das ist ein alter Hut, aber von zwei Weddingern – und die haben den Grunewaldspaziergang nicht spontan gemacht, sondern geplant. Das stand schon 1930 oder so in der Roten Fahne, wo die bei den Lesern damals so gut angekommen ist, dass die DDR die Geschichte später in einen Sammelband mit aufgenommen hat. Ich habe leider vergessen, wie der hieß.“

Diese Auskunft ließ mir keine Ruhe. Bereits am nächsten Tag fand ich den Text im Antiquariat Zossener Straße: „Wir sind die Rote Garde“ (Band 1 und 2). Den hatte Kurt Held – alias Kurt Kleber – 1931 veröffentlicht und er hieß: „Perlemann geht in den Grunewald“. Da geht die Geschichte dann jedoch so weiter, dass die beiden Spaziergänger aus dem Wedding von einem Polizisten mit Fahrrad bis zum S-Bahnhof Grunewald begleitet werden, unterwegs beschimpfen die Anwohner sie als „freches Proletenpack“. Und Perlemann meinte zum Schluss: „Wirklich eine herrliche Gegend, ganz so, wie wir sie brauchen!“