: Elfenbein an Nikotin
Was braucht es im Winter? Mehr nagelneue Epik oder: den Renovierroman
„Verflucht!“, schrie Ronny, „was für eine Scheiße, was für ein Dreck, was für eine Bullengülle!“ – „Beruhige dich!“, rief Carlo aus dem Nebenzimmer. „Was ist denn los?“ – „Nee, nee, nee!“, brüllte Ronny zurück. „Das Weiß deckt nicht! Das verschissene Weiß weißt nicht! Es ist zum Flaschenerbrechen! Ich streich jetzt diesen verhobelten Rahmen zum vierten Mal, und es sieht immer noch aus wie Elfenbein an Nikotin!“ – „Dann rauch halt nich’ so viel!“ – „Superratschlag! Das hilft mir ja jetzt so was von extrem! Ich könnt mir einen Eimer über den Kopf stülpen!“ – „Aber bitte einen vollen“, geckerte Carlo.
Die Stimmung in der Bochumer Straße war auf dem Höhepunkt. Seit drei Tagen versuchten Ronny und Carlo, eine in drei Jahren aus sämtlichen zeitgenössisch akzeptierten Formen der Wahrnehmung geratene Wohnung so wiederherzustellen, dass Ronny, der mit der Gemahlin hier aus- und in eine idyllisch am Stadtrand gelegene Mühle umgezogen war, von der Wohnungsgesellschaft seine Kaution in Höhe von acht Chefredakteursmonatsgehältern wiederbekommen würde.
„Und die Alte ist auch noch nicht da!“, schrie Ronny. Es knallte, Glas splitterte, ein Pinsel platschte auf den Laminatboden. „So, das Fenster können die austauschen. Aus-tau-schen! Care off!!“ Carlo schwieg und sah sich die Fußleisten im Wohnzimmer an, in dem er gerade beschäftigt war. Die waren auch noch dran! Das hatte ihm Ronny gesagt. Die Wohnungsgesellschaft verlangte es so. Alle Türen, alle Zargen, alle Fenster, alle Wände, alle Decken mussten abgeschliffen und/oder gestrichen werden. Und zwei der fünf Heizkörper!
Carlo war der Arsch, der alles abklebte und -schliff. Ronny war der Arsch, der alles strich. In dem Moment, als Carlo das dachte, fiel von der gerade fertig gestrichenen Decke ein dicker Tropfen Weiß auf seinen Kopf. „Leck mich, Weiß!“, entfuhr es ihm. „Lack! Wo ist der Lack?! Ich glaub, ich bring mich um!“, brüllte da Ronny und trat ins Wohnzimmer. Er hielt inne, schaute auf die fünfmal gestrichenen Zargen der Wohnzimmertür und strich dann mit der Hand über das Holz. „Eine Nase!“, brach es aus ihm heraus. „Ich glaub es nicht! Nee, nee, nee!“ Carlo kauerte bereits auf einem umgedrehten leeren Farbeimer und rauchte. „Ja, rauch nur!“, fauchte Ronny. Er trat nach einem Hammer und sank in die Knie. „Ich rauche jetzt!“
Ronny und Carlo waren dem nahe, was man Verzweiflung nennt. Sie würden es nie schaffen, wussten sie. Also rauchten sie und schauten. Da drehte sich der Schlüssel im Schloss, und Ronnys Gattin stand vor den beiden Renoveuren. „Hallo“, sagte sie, ihr Blick wirkte müde. „Gibt es noch was zu streicheln?“ – „Streichen! Streichen heißt das!“, brüllte Ronny, der beim Rauchen Kraft gesammelt hatte. „Ja, es gibt noch was zu streicheln! Die Heizungen, die Zargen, das Fenster in der Küche, das Fenster im Badezimmer, die Klotür, es gibt noch viiii-eeel! meee-hhhr! zu streicheln!! Und der blöde Fußboden ist auch noch total verschweint!“ – „Sag mal“, Carlo erhob sich von seinem Eimer, die Knie knirschten, er fühlte sich gefedert, geteert und geweißt, „wo ist eigentlich der Renovierbogen von dem Wohnungs-Maier?“ – „Da“, sagte Ronny ruhig.
Carlo blätterte die fünf Seiten durch, Ronnys Frau kratzte im Schlafzimmer schon alten Leim vom Boden, und Ronny stand am Fenster. Im Wohnblock gegenüber beugte sich eine alte Frau übers Fenstersims und sinnierte. „Wenn du nix zu tun hast, dann komm rüber und hilf uns, alte Pompse!“, brüllte Ronny, als Carlo das Wort erhob: „Hör mal, Ronny, da steht: ‚Wohnzimmertür abschleifen und streichen. Schlafzimmerfenster streichen. Leisten im Flur abschleifen und streichen. Sonstige Fenster, Türen und Leisten reinigen. Reinigen.‘“ – „Nein“, hauchte Ronny.
Aus dem Schlafzimmer erklang ein Lied: „Ruinieren statt renovieren, maniküren statt makulieren, das ist unser Los!“
JÜRGEN ROTH