: Wohnen im 21. Jahrhundert
Die Kommune an der Großen Mauer: Für das erste Experiment im privaten Wohnungsbau in China wurde einem Dutzend der innovativsten Architekten, die in Asien bauen, Carte blanche gegeben
von CHRISTOPHER PHILLIPS
Verlässt man Peking mit dem Auto in nordwestlicher Richtung, trifft man gleich nach den letzten Randbezirken auf offenes Agrarland. In weniger als einer Stunde sind die Yanshen-Berge zu sehen und kurz danach taucht die Große Mauer am Horizont auf. Verlässt man die Autobahn bei Shigun und fährt ein paar Kilometer auf einer gewundenen Straße weiter, die voller Touristenbusse ist, kommt man eine bewachte Straßeneinfahrt. Hinter ihr erstreckt sich das Nangou-Tal, dessen Hügelketten mit dem Weiß der blühenden Pfirsichbäume gesprenkelt sind und das von drei Seiten durch die Große Mauer umgrenzt wird. Hier, in diesem bukolischen Tal, findet sich der Schauplatz für das erste Experiment im privaten Wohnungsbau in China – die Kommune an der Großen Mauer. Einem Dutzend der innovativsten Architekten Asiens wurde Carte blanche gegeben, sich vorzustellen, wie das private Wohnen im 21. Jahrhundert in China aussehen könnte.
China, inzwischen schon im zweiten Jahrzehnt eines ungebrochenen Wachstums, wird bislang mehr mit schierer Quantität an Architektur denn mit Qualität in Verbindung gebracht. Eines der auffälligsten Merkmale der durchaus innovativen chinesischen Hochhausarchitektur ist die Tatsache, dass sie eine weitgehend anonyme, kollektive Angelegenheit ist. In den von der Regierung finanzierten und beauftragten Planungsbüros haben die Architekten am wenigsten zu sagen, denn sie werden von den Ingenieuren dominiert. Deshalb ist der private Wohnungsbau inzwischen ein vielversprechendes Feld für junge Architekten geworden. Und in einem Land wie China, wo der neue Reichtum eine landesweite Obsession eines privaten Hausbesitzes entfacht hat, existiert inzwischen eine große öffentliche Neugierde auf ein neues Bauen, das den traditionellen Stil hinter sich lässt.
Doch nicht nur aus diesem Grund ist das Kommune-Projekt bemerkenswert. Es erscheint zudem wie ein fernes Echo anderer Architekturexperimente der Vergangenheit. Ganz bewusst knüpft es an die 1927 entstandene Weißenhof-Siedlung in Stuttgart an, die Architekten wie Le Corbusier und Mies van der Rohe die Möglichkeit bot, ihre Idee vom Neuen Bauen zu realisieren. Daneben erinnert die Kommune auch an das kalifornische „Case Study Houses“-Projekt der Fünfziger- und Sechzigerjahre, zum einen wegen des hügeligen Baugrundes, zum anderen wegen der Leichtigkeit und den bescheidenen Dimensionen der Häuser. Zuletzt scheint die extrem offene Anlage der Villen auch an die einflussreiche Ausstellung „The Un-Private House“ anzuknüpfen, die 1999 im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) stattfand.
Aufgrund der Beteiligung von international bekannten Architekten wie dem Hongkonger Gary Chang oder den Japanern Shigeru Ban und Kengo Kuma, hat die Kommune an der chinesischen Mauer für einiges Aufsehen in internationalen Architektenkreisen gesorgt. Im Frühjahr 2002 inspizierten dann auch die Leiterin des New Yorker P.S. 1, Alana Heiss, und der Schweizer Kurator Harald Szeemann die Anlage, und ihr begeisterter Bericht führte schließlich zu einer Einladung zur Archiktekturbiennale in Venedig, wo das Kommune-Projekt gezeigt wurde. Dort übergab Terence Riley, Kurator am MoMA und Mitglied der Biennale-Jury, Zhang Xin und ihrem Ehemann Pan Shiyi einen Spezialpreis für ihr Engagement, das Projekt als junge Pekinger Bauträger initiiert zu haben.
Noch keine vierzig Jahre alt, verkörpern Zhang Xin und Pan Shiyi in vieler Hinsicht die Energie und den Ehrgeiz, der Chinas rasantes wirtschaftliches Wachstum erklärt. Beide wuchsen in der Provinz auf, wohin ihre Familien wie Millionen anderer Städter während der Kulturrevolution deportiert worden waren. Beide gingen schon früh eigene Wege. Pan Shiyi gab einen Job bei der Regierung auf, um sein Glück im Immobilienboom der südchinesischen Sonderwirtschaftszone zu versuchen. Zhang Xin arbeitete als Teenager in Hongkong am Fließband, bevor sie nach Cambridge ging, wo sie ihren Abschluss in Wirtschaftswissenschaften machte und anschließend einen Job als Finanzanalystin bei Goldman Sachs in New York annahm. Die beiden lernten sich Mitte der Neunzigerjahre kennen, heirateten und eröffneten ein Büro in Peking. Hier errangen sie 1998 mit ihrem „Soho New Town“ -Komplex lokale Berühmtheit. Die großzügigen, mit der neuesten technischen Infrastruktur ausgestatteten Eigentumswohnungen in den zehn farbenfrohen, 20 Stockwerke hohen Türmen, konnten auch als Büros genutzt werden. Der „Soho New Town“-Komplex, der „Freiheit und Individualität“ versprach, Wohnqualitäten, die andere renditeorientierte Blocks ganz offensichtlich missen ließen, war sofort eine Sensation.
Mit ihrem Kommune-Projekt zielen sie nun auf eine noch exklusivere Klientel. Mit dem vermehrten Zuzug von Arbeitsuchenden vom Land, so spekulieren sie, werden die wohlhabenderen Pekinger aus der Hauptstadt herausziehen wollen, um ihrem Lärm und Schmutz zu entkommen. Und, so spekulieren sie weiter, unter den reichen Pekingern gibt es nicht nur Leute, die willens sind, eine halbe Million Euro für ein Haus zu bezahlen, sondern auch solche, die sich mit einer unkonventionelleren Architektur anfreunden könnten.
Das Kommune-Projekt, wie es Zhang Xin sieht, ist Teil einer Suche nach einer spezifisch asiatischen, zeitgenössischen architektonischen Identität. Vom Erfolg ihres Soho-Projekts beflügelt, brachten Zhang Xin und Pan Shiyi rund 24 Millionen Euro Investorengeld auf und kauften das Baugelände nahe der Großen Mauer. Dann boten sie jungen, im asiatischen Raum praktizierenden Architekten aus China, Hongkong, Taiwan, Japan, Singapur, Südkorea oder Thailand an, ohne weitere Vorgaben ein Haus für den von ihnen erworbenen Standort zu entwerfen. Jedes Haus stellt einen Prototyp dar, den der potenzielle Käufer besichtigen kann, bevor er oder sie sich für ein Haus entscheidet.
Von den zwölf Architekten, die mitmachten, hatten nur wenige zuvor in China gebaut. „Wir gingen mit ihnen in Peking auf die Märkte und Baustellen, um ihnen zu zeigen, welche handwerklichen Fähigkeiten sie von unseren Auftragnehmern erwarten konnten und welche Baumaterialien verfügbar sind.“ Ansonsten waren die Grundregeln einfach: Die Architeken sollten die Umgebung bewahren, sie sollten wenn möglich Materialien der Gegend benutzen und sie sollten auf eine allzu farbige Gestaltung der Außenfassaden verzichten. Zudem wurde ihnen nahegelegt, Alternativen zum traditionellen chinesischen Haus zu entwickeln, bei dem eine hohe Mauer das Haus und den privaten Garten umgrenzt. Für Zhang Xin war der Name „Kommune“ keineswegs eine ironische Referenz an die Zeit der Kulturrevolution, als Millionen von Chinesen aufs Land verbracht wurden, vielmehr sollte er signalisieren, dass die Häuser offen angelegt sind, zur umgebenden Natur, aber auch offen zu den Nachbarhäusern.
Die größten Schwierigkeiten während der Bauphase, erklärt der Architekt Antonio Ochao, der aus Venezuela stammt, aber vor zehn Jahren nach Peking übersiedelte, ergaben sich durch die örtlichen Bauunternehmer, die nie mit den Anforderungen moderner Architektur konfrontiert waren. Die Arbeiter mussten etwa lernen mit Sichtbeton umzugehen, ein Material, das ihnen unbekannt war. Trotz vieler Kompromisse erreichten die fertig gestellten Gebäude nicht immer den erwarteten Qualitätsstandard. Dennoch, so Ochao, die architektonische Grundidee konnte durchgesetzt werden. Nach westlichem Maßstäben vollzog sich die Realisierung des Projekts jedenfalls atemberaubend schnell: Nach der Erschließung des Baulandes im Mai 2001 konnten schon im darauffolgenden Sommer die fertig gestellten Häuser der Öffentlichkeit präsentiert werden.
So etwa das gespaltene Haus des Pekinger Architekten Chang Yung-Ho, der in Berkeley studiert und in den USA unterrichtet hatte, bevor er Anfang der Neunzigerjahre nach Peking zurückkehrte, um das erste private Architekturbüro Chinas zu gründen. Sein Haus ist eine Art schematisch auseinander gerissenes Hofhaus traditioneller chinesischer Bauart. Hinter den zwei frei stehenden Hälften des Hauses formt die Hügellandschaft eine Art natürliche Mauer. Eine Glasbrücke, unter der ein schmaler Bach fließt, verbindet die symmetrischen Haushälften, die aus natürlichen Materialien errichtet sind. Die Frontfassaden sind mit Holz verkleidet, während die Seitenwände ihre Lehmbauweise ausstellen, eine traditionelle chinesische Bauweise, die die Häuser im Sommer kühl und im Winter warm hält.
Dagegen ist der japanische Architekt Shigeru Ban für seine Materialexperimente berühmt. Zur Zeit des Erdbebens in Kobe verwendete er zum Beispiel Papierröhren, aus denen er innerhalb von 24 Stunden Notunterkünfte für Erdbebenopfer errichten konnte, die Witterungsschutz boten und Nachbeben standhielten. Für sein Kommune-Haus benutzte er nun Bambus. Obwohl es ursprünglich eines der preiswertesten Häuser werden sollte, explodierten die Baukosten, denn es fand sich keine Fabrik in China, die den benötigten Bambus liefern konnte. Auch Kengo Kuma aus Japan benutzte Bambus in der Kommune. Sein Haus ist das einzige Glashaus der Anlage. Für Privatheit und Diskretion sorgen die beweglichen Bambuswände, die sich vor die transparenten Wandebenen fahren lassen.
Noch radikaler hinsichtlich der Vorstellungen von privatem, intimen Wohnen, ist die einzige Architektin des Projekts, die Thailänderin Kanika R’kul. Ihr „Shared House“, ein strikter Richard-Meier-Kubus aus weißen Wänden und flachem Dach, zeichnet sich durch eine besonders originelle Lösung von Schlaf- und Badezimmern aus. Die vier kleine Schlafräume des Hauses liegen Wand an Wand in der Mitte des Hauses, ohne Fenster oder sonstige Öffnung zur Außenwelt. Hinter ihnen, nur über einen Korridor erreichbar, der von oben durch Tageslicht erhellt wird, liegen vier Badezimmer. Bewohner und Gäste können also unter ihnen wählen, beziehungsweise dasjenige benutzen, das gerade frei ist. Diese Situation garantiert natürlich, dass die Bewohner sich in den unmöglichsten Situationen auf dem Korridor treffen. Man darf davon ausgehen, dass R’kuls Szenario für solche Zufallstreffen jenseits der Vorstellungen von einem behaglichen Wohnen liegt, die die anvisierte Klientel der Kommune-Villen pflegt.
In jedem Fall aber zeigen die Kommune-Häuser eine ungewöhnliche Klarheit der Konzeption und eine seltene Bereitschaft, bis an die Grenzen des kommerziell Möglichen zu gehen. Die Reaktionen waren dementsprechend gemischt. Die Tageszeitung Peking Star konnte zwar nicht umhin, die Schönheit der Häuser und ihre interessante Architektur zu erwähnen, befand aber deutlich: „In einem Land, in dem die Ernährungs- und Wohnungsfrage gerade eben erst gelöst wurde, ist es doch sehr fraglich, ob diese Art von Luxusvillen angemessen sind.“ Wer in China wird jetzt so mutig sein, eine der Villen zu kaufen?
Zhang Xin, zufrieden, dass sie dieses Freilicht-Museum geschaffen hat, das den Gang der chinesischen Architektur ändern wird, gibt zu, dass auch sie es nicht recht weiß. „Für etwas wirklich Innovatives existiert eben keine Marktforschung. Die Geschichte gab uns die Chance. Was hätten wir anderes tun sollen?“
siehe www.commune.com.cn Christopher Phillips ist Kurator am International Center for Photography, New York. Seine Ausstellung „New Photography from China: Performing Contemporary“ eröffnet 2004. In Berlin zeigt sie das Haus der Kulturen der Welt.